Glutenunverträglichkeit & Zöliakie: Brot macht (nicht) tot!

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Glutenunverträglichkeit & Zöliakie: Brot macht (nicht) Tod!

Von Dr. Frank-Holger Acker | Benötigte Lesezeit: 8 Minuten |


Lieber Leser, der folgende Text war Bestandteil der inzwischen nicht mehr kaufbaren Textsammlung “Iss mal wieder ne Scheibe Brot” und stellt kein Getreide-Bashing oder ähnliches dar. Ich vertrete eine gemäßigte Position zu jeglichen Ernährungsweisen und bin ein Freund davon, in erster Linie zum Reflektieren und Nachdenken anzuregen. Ernährung ist ein hochemotionales Thema, bei dem so manch einer sich schnell gekränkt oder missverstanden fühlt, wenn er in seinen Vorstellungen nicht bestätigt wird.

Wer eine feste Position zum Thema Getreide bezogen hat, sollte diesen Text nicht lesen. Der Inhalt könnte nicht gefallen und soll auch gar nicht zu einer anderen Meinung überzeugen. Lies in diesem Fall lieber andere Texte hier auf Aesir Sports oder bestell dir beispielsweise „Artgerechte Ernährung“ von Klaus Wührer, die eine (meiner Ansicht nach einseitig geprägte, aber interessante) Übersicht zur Physiologie bietet und garantiert getreidefrei ist. – Generell auch für Brotesser lesenswert.

Glutenunverträglichkeit & Zöliakie: Brot macht (nicht) tot!

Die Fakten: Gibt es Glutenunverträglichkeit?

Bevor wir uns anschauen, wie sich das Verhältnis zu Gluten in den letzten Jahren verändert hat und wo die möglichen Ursachen dafür liegen, betrachten wir zunächst einmal die nüchternen Fakten, ohne Partei zu ergreifen:

  • Punkt 1: Gluten ist der Sammelbegriff für das Proteingemisch, welches in einigen Getreidesorten zu finden ist. Im Alltag umfasst diese Getreide für uns Deutsche vor allem Weizen, Roggen, Hartweizen und Dinkel.
  • Punkt 2: Menschen mit einer sogenannten Zöliakie müssen Gluten tatsächlich vermeiden!

Worum handelt es sich bei dieser ominösen Zöliakie?

Im Rahmen der Nahrungsaufnahme findet die eigentliche Verdauung und Absorption von Kohlenhydraten im Dünndarm statt. Ohne an dieser Stelle zu sehr ins Detail gehen zu wollen, hat die Innenwand des Dünndarms eine Vielzahl an herausragenden Zoten (erkennbar in Abschnitt 0 der unteren Grafik), über die Kohlenhydrate, Fette und Aminosäuren bzw. Di- und Tri-Peptide aufgenommen werden.

Bei Menschen, die an einer Zöliakie erkrankt sind, löst das Protein Gliadin, das in Gluten enthalten ist, vereinfacht beschrieben eine immunologische Reaktion aus, die am Ende zum Zelltod der Schleimhautzellen des Darms führt.

Dadurch verringert sich die Aufnahmefläche des Dünndarms und die Nahrung kann nicht mehr in normalen Umfang aufgenommen werden. Wollen wir das? Nein, natürlich nicht. Aber wir wollen auch kein Diabetes und trotzdem kriegen wir diese nicht von einer Portion Zuckerwatte am Wochenende auf dem Volksfest.

 

Glutenunverträglichkeit & Zöliakie: Brot macht (nicht) tot!

Unterschiedliche Schleimhaut-Stadien im Ablauf. (Bildquelle: Wikimedia.org / andreas06)

Aber woran erkenne ich eine Zöliakie? Hier liegt das Problem.

Die Symptome sind beim Erwachsenen relativ unspezifisch: Chronische Müdigkeit oder allgemeines Krankheitsgefühl, Kraftlosigkeit, Nervosität, schmerzende Knochen, Zahnschäden oder trockene Haut. All diese Beobachtungen können eine Vielzahl an Ursachen haben und müssen nicht gemeinsam auftreten.

In Zeiten beruflicher Beanspruchung, in denen viele Menschen aufgrund mangelnden Ausgleichs Überforderungserscheinungen haben, treten solch diffuse Körpersignale jedoch leicht auf.

Wer unter der Woche nur 6 Stunden pro Tag schläft und am Sonntag dem Frühstücksbrötchen die Schuld an allem gibt, sollte kurz in sich gehen, ob dies tatsächlich die naheliegende Lösung ist. Im Zweifelsfall zur Denkhilfe einfach mal das Brötchen 5 cm wegschieben.

Fakt ist: Eine Zöliakie haben in Deutschland gerade einmal 0,3 % der Bevölkerung! Ob man selbst überhaupt eine genetische Veranlagung besitzt, kann inzwischen sogar per Bluttest beantwortet werden. In diesem Zusammenhang der Hinweis, dass nur etwa 5 Prozent der Menschen, die die entsprechende Veranlagung haben, auch tatsächlich an Zöliakie erkranken. Der Bluttest ist also in erster Linie ein Hinweis, kann aber auch gleichermaßen ein Ausschlusskriterium sein.

Es ist also wahrscheinlicher, dass man ein Linkshänder mit dem Nachnamen Müller ist, als dass die eigene Ehefrau einen jeden Sonntag erneut erfolgreich mit Backwaren vergiftet.

Gluten liegt im (Google-)Trend!

Fakt ist also, dass es eine Glutenunverträglichkeit gibt. Fakt ist aber auch, dass die nur einen SEHR geringen Anteil der Bevölkerung tatsächlich betrifft. Dennoch erfreut sich das Thema Gluten eines in den letzten Jahren immens steigenden Interesses.

Zieht man das Suchverhalten der deutschen Bevölkerung auf der allwissenden Datenkrake Google als Gradmesser heran, kann man guten Gewissens behaupten: Gluten liegt im Trend!

Während das Suchverhältnis von Zöliakie zu Gluten bis 2010 noch relativ ausgeglichen war, zog Gluten in den letzten Jahren weit davon. Die Deutschen scheinen also überzeugt davon, dass Gluten irgendetwas mit ihrem Körper anstellt.

Glutenunverträglichkeit & Zöliakie: Brot macht (nicht) tot!

(Bildquelle: Google-Trends )

Dass das Internet inzwischen voll mit (verängstigenden) Informationen ist, trägt seinen Teil bei, so dass Mediziner inzwischen bereits den Begriff Morbus Google nutzen.

Das Ergebnis: Obwohl nur 0,3 % der Deutschen an Zöliakie erkrankt sind, meiden 9 % bereits Gluten. Natürlich bilden diese 9 % sich nicht allesamt eine Zöliakie ein. Vermutlich wird ein Teil davon diesen Begriff nicht einmal im aktiven Sprachschatz haben. Was diese Menschen dagegen schon glauben zu erkennen, ist eine Glutensensitivität. Schauen wir uns nun also diese genauer an.

Wenn schon nicht Zöliakie, dann wenigstens Glutensensitivität?

Betrachtet man die oben dargestellte Grafik noch einmal genauer, ist ein Anstieg der Gluten-Suche vor allem seit 2011 erkennbar. Ein kleiner Teil der Verantwortung ist dabei vermutlich Jessica Biesiekierski zuzuschreiben. Diese veröffentlichte im Jahre 2011 eine double-blind randomized placebo-controlled Studie, die an 20 Frauen und 4 Männern durchgeführt wurde.

Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass es möglicherweise so etwas wie eine Glutensensitivität geben KÖNNTE. – Diese ausgesprochen vorsichtige Formulierung wurde nicht von mir in dieser Form getroffen, sondern bereits von Biesiekierski selbst.

Wortwörtlich fasste die Forscherin zusammen, dass die Unverträglichkeit bestehen könnte, aber keine Hinweise auf die Ursachen gefunden werden konnten. Und was wurde daraus gemacht?

Unzählige weitere Autoren nahmen die Ergebnisse von Biesiekierski auf und instrumentalisierten diese in der üblichen Art und Weise.

Vorsichtige Hinweise sind nicht so beeindruckend wie erschütternde Fakten, so dass die Studie immer wieder als (vermeintlicher) Beweis einer Unverträglichkeit herangezogen wurde. Schließlich war das Studiendesign seriös und die (pauschalisierten) Ergebnisse wie eine lang ersehnte Antwort.

Doch was Biesiekierski für die Scientific Community ist, stellt William Davis für die Mainstream-Leserschaft dar:

Weizenpampe: Einmal monokausale Behauptungen bitte!

Im Jahr 2011 erschien die erste deutsche Auflage es Buchs “Warum Weizen dick und krank mach: Weizenpampe“, in dem der amerikanische Kardiologe William Davis vor den Konsum von Weizen warnt. Die Hauptargumente des pamphletartigen Werkes sind:

  1. Die üblichen Verdächtigen Insulin und Gluten, sowie
  2. Exorphine

Bei Exorphinen handelt es sich um Peptide (also Aminosäurenverbindungen), die wie Opioide (z.B. Morphin) wirken bzw. an die entsprechenden Rezeptoren andocken. Diese geradezu erschütternde Erkenntnis, die Davis mit seiner Leserschaft teilt, war zu diesem Zeitpunkt bereits 40 Jahre alt! Warum man davon bisher noch nichts gehört hat? Weil die Stärke der Wirkung entsprechend gering ist, was Davis natürlich unter den Tisch fallen lässt.

Ein Wassertropfen macht auch Nass, dennoch käme niemand der bei Verstand ist auf die Idee, Menschen vor dem Tod durch Ertrinken zu warnen, weil es morgen regnen soll. Das Prinzip wäre dasselbe.

Ich persönlich betitle dieses Vorgehen in meinen Workshops gerne als Ballon-Phänomen: Einzelne Punkte, die durchaus korrekt sind, werden unglaublich aufgeblasen, so dass diese auf die Zuschauer riesengroß wirken und dabei steckt lediglich heiße Luft dahinter.

Exorphine, um das Thema abzuschließen, befinden sich im Übrigen auch in Kaffee, Milch und Kakao. Wer also Exorphine für eine ernstzunehmende Bedrohung hält, sollte erst einmal den Kampf gegen die Latte-Macciato-Industrie antreten!

Bleiben also noch Gluten und Insulin.

Das Thema Gluten wurde weiter oben bereits ausführlich dargestellt. Davis instrumentalisiert die existierenden Fakten in seinem Buch geschickt: Am krassen Beispiel der Zöliakie wird erläutert, was Gluten anrichten kann – ohne dabei zu erwähnen, dass dies eben lediglich für entsprechend kranke Menschen zutrifft. Nur weil ein trockener Alkoholiker keine Mon Cherry naschen sollte, sind die Pralinen nicht mit Tollkirschen gefüllt und giftig für jedermann.

Interessanterweise relativiert Davis seine Argumentation später selbst, indem er auf Zöliakie-Patienten hinweist, die trotz gluten- und damit weizenfreien Lebensmitteln weiterhin fett und krank sind, wenn sie ihre Ernährung nicht umstellen. Gratulation zu dieser Erkenntnis: Wer also zu viele Kalorien zu sich nimmt, als er verbraucht, wird auch weiterhin eine Wampe vor sich herschieben. Bleibt nicht mehr viel für unsere Weizenpampe, was Davis in den Kampf schickte, also bleibt mal wieder alles beim Insulin hängen.

Dieses Thema wird von Davis dargestellt, als ob die Menschen, die an Fettleibigkeit und Diabetes leiden, sich Scheibenweise trockenes Toastbrot über Jahre hinweg reingeschoben hätten. Eine glykämisches Last, einer Kalorienbilanz oder sogar unzureichender Bewegung wird gar nicht oder nur peripher thematisiert.

Klar, dass würde das Thema auch nur kompliziert machen und wenn man ganz monokausal nur vor einem Teufel warnt, fängt man mit seinem Lied auf der Flöte deutlich mehr Leser ein. Tatsache ist aber, dass immer noch zu wenig Bewegung und zu viele Kalorien die Wurzel allen Übels sind. Ziemlich langweilige Feststellung. Deswegen verkauft sich auch kein Buch mit dem Titel Die Bewegungs- und Fresswampe.

Zurück zu den Verdauungsproblemen: FODMAPs

Kommen wir aber zunächst einmal zurück den Verdauungsproblemen, die tatsächlich von vielen Konsumenten wahrgenommen werden bzw. verschwinden, wenn aufs Müsli am Morgen und die Scheibe Brot am Abend verzichtet wird.

Auch Biesiekierski wollte diesem Phänomen auf den Grund gehen. In einer Erhebung aus dem Jahr 2013 wurden Probanden untersucht, die subjektiv eine Glutenunverträglichkeit feststellten. Um es kurz zu machen: Von 37 Probanden hatten lediglich 3 tatsächlich Probleme mit Gluten. ALLE Teilnehmer bekamen dagegen Probleme, wenn sie in der Studie Nahrung mit einem höheren Anteil an bekamen

Die Abkürzung FODMAP steht für:

  • Fermentable
  • oligo-,
  • di and
  • monosaccharides and
  • polyols

Also Kohlenhydrate, die im Dünndarm nicht aufgenommen werden und daher den Bakterien im Dickdarm zur Verfügung stehen.

Solche FODMPAPs sind tatsächlich in Weizen enthalten. Jedoch auch in Brokkoli, Kohl, Rote Bete, Knoblauch, Zwiebeln, Äpfeln, Birnen, Süßkartoffeln, Mango, Mais, Blumenkohl…

Laktose führt ab einem gewissen Grad ebenfalls zu Problemen. Wo die Grenze liegt, ist schlichtweg individuell. Mit genügend Lactose würden wir aber alle eine Unverträglichkeit wahrnehmen, genauso wie (über)große Mengen Fruktose vom Körper nur begrenzt aufgenommen werden können. Wer sich als Kind mal an Äpfeln überfressen hat und danach mit Durchfall zu kämpfen hatte oder zwei Tüten Low Carb Gummibärchen (mit Sorbit) inhaliert hat, wird wissen, was FODMAPs anstellen können. Ich spreche aus Erfahrung.

Wer nun also von heute auf morgen nicht mit Hilfe der Schüssel “gesundes” Müsli ertränkt in einem halben Liter Milch den Darm mit FODMAPs vollspült, wird entsprechende Verbesserungen verspüren. Zumindest ist die Wahrscheinlichkeit in diesem Fall recht groß!

Warum Getreide dennoch den Schwarzen Peter zugesteckt bekommt

Warum steht Getreide dennoch so stark am Pranger? Die naheliegende Antwort wäre, weil es funktioniert. Während wir die eigentlichen Ursachen, die im Hintergrund ablaufen, kurz thematisierten wurden, finden auf der großen Bühne, die unsere Aufmerksamkeit hat, lebensverändernde Schauspiele statt.

Wenn man davor warnt, dass zu viel fressen fett macht, hört keiner zu. Nimmt man dem Deutschen sein täglich‘ Brot, ist Aufmerksamkeit gewiss, denn es widerspricht all dem, was unsere Eltern uns in der grundlegenden Sozialisation auf den Weg gaben.

Entsprechend verwundern auch nicht, dass manch einer nach (kurzzeitigem) Brotverzicht nach erneutem Konsum gefühlte tausend Tode stirbt. Analog zum bekannten Placebo-Effekt wird dies in der Medizin vor allem im Zusammenhang mit angeblich schädlichen Medikamenten bekannt und wird als Nocebo-Effekt betitelt.

Wenn ich also glaube, dass mir etwas schadet und mit der entsprechenden Erwartung herangehe, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich zum Hobby-Hypochonder werde.

In der Sozialpsychologie gibt es mit dem Thomas-Theorem eine ähnliche Darstellung für den Umgang mit unseren Mitmenschen: If men define situations as real, they are real in their consequences.

Halte ich jemanden für einen dummen Idioten, behandle ich ihn entsprechend und nehme dessen Verhalten und Äußerungen entsprechend gefärbt wahr. Leider trifft dies auch umgekehrt auf vermeintliche Heilsbringer zu.

In diesem Sinne: Bleib kritisch, reflektiere dich und dein Handeln und bedenke, dass Veränderungen im Körper (ins Positive wie Negative) oftmals über Wochen und Monate geschehen. Von einer Scheibe Brot ist noch kein gesunder Mensch gestorben.

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Bildquelle Titelbild: Fotolia / lightpoet


Über

Frank-Holger Acker – Der Autor dieses Artikels ist ein 75-Kilo-Experte, der diverse Wettkämpfe im Powerlifting und Bodybuilding gewann. Seine Bestleistung im Kreuzheben betrug im Wettkampf 3-faches Körpergewicht nur mit Gürtel. Neben einer individuellen Trainings- und Ernährungsbetreuung auf www.become-fit.de baut Frank aktuell seinen Youtube-Channel rund um Training und Ernährung aus.

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