4 Kniebeuge Mythen, die du beerdigen solltest

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4 Kniebeuge Mythen, die du beerdigen solltest

Von Menno Henselmans | Benötigte Lesezeit:  6 Minuten |


Was wäre die Trainings- und Gesundheitswelt ohne ihre entsprechenden Mythen?

Nun, sie wäre eindeutig besser dran und daher werden wir auch nicht müde, wenn es darum geht falsche Behauptungen und Fehlannahmen zu korrigieren – so auch im heutigen Beitrag, wenn es um die Königsdisziplin im Kraftsport geht: Die Kniebeuge!

Hier sind 4 Kniebeuge Mythen, die du ab heute lieber ad acta legst.

4 Kniebeuge Mythen, auf die beerdigen solltest

Kniebeuge Mythos Nr. #1: Frontkniebeugen sind für den Quadrizeps, klassische Kniebeugen für die Gesäßmuskulatur

Dies war eine durchaus plausible Theorie. Frontkniebeugen und High Bar Kniebeugen sind knie-dominanter als Low Bar Kniebeugen, insofern aktivieren sie den Quadrizeps stärker und die Gesäßmuskulatur weniger stark, oder?

Nope. Der Quadrizeps und die Gesäßmuskulatur werden in höchstem Maße während jeder Kniebeuge-Variation – ohne einen Unterschied bei der Positionierung der Hantel – aktiviert (1)(2)(3)(4)(5)(6). Es verändert sich lediglich der Hebel, was in einem unterschiedlichen Kraft-Output und Drehmoment der Gelenke resultiert. Der Bewegungsradius (Range of Motion) kann sich ebenfalls verändern, aber im Inneren arbeiten die Muskeln ähnlich hart während aller Variationen.

Sofern du also nicht gleichzeitig deine Fußstellung (Breite) und Tiefe veränderst, beeinflusst die Position der Stange nicht die Aktivierung des Quadrizeps und der Gesäßmuskulatur.

4 Kniebeuge Mythen, die du beerdigen solltest

Ob Back Squat oder Front Squat – sowohl Quadrizeps als auch Gesäßmuskulatur müssen ähnlich hart während der Ausführung ackern. (Bildquelle: Fotolia / LIGHTFIELD STUDIOS)

Kniebeuge Mythos Nr. #2: Es ist gefährlich, wenn die Knie über die Zehenspitzen hinausragen

Ein Klassiker. Anders als bei den Kadavern, welche für den Ursprung der Theorie verantwortlich sind, will dieser Mythos einfach nicht aussterben. Forschung an Kadavern, die beinahe so alt ist, wie die Kadaver, ebnete den Weg für die Annahme, dass ein vorgeschobenes Knie bei Kniebeugen den Drehmoment des anterioren Knies erhöht.

Dies ist ein biomechanischer Fakt, doch die Idee, dass das Kniebeugen ohne vorgeschobene Knie, die über die Zehenspitzen hinausragen, die sicherste Art zu beugen ist, ist fehlgeleitet. Wenn dir jemand beim nächsten Mal versucht zu erzählen, dass dies die richtige Art zu beugen ist, solltest du folgende Aspekte ansprechen.

  1. Trainierst du überhaupt, bro? Es ist für viele Menschen physisch unmöglich auf paralleler Tiefe zu beugen, ohne den Rücken so zu buckeln, wie Quasimodo, wenn die Knie nicht nach vorne gebracht werden dürfen. Der Bewegungsradius, der nicht aus den Knöcheln realisiert werden darf, muss aus der Hüfte erbracht werden. Viele Menschen verfügen nicht über eine solche Hüftmobilität, insofern muss die Bewegung vom nächstgelegenen Gelenk weiter oben erfolgen: Die Wirbelsäule. Und das ist nicht gut. Die Beugung der Wirbelsäule unter Last erhöht die Scherenkräfte, die auf die Wirbelsäule einwirken (1).
  2. Nehmen wir der Einfachheit an, dass jemand die notwendige Hüftmobilität besitzt, um parallel (und ohne das die Knie über die Zehenspitzen hinausragen) zu beugen, ohne dabei einen Buckel machen zu müssen (eventuell via Low Bar Kniebeuge). Wie beeinflusst dies den Drehmoment der Gelenke im Vergleich zu einer intuitiven Beuge, bei der die Knie nach vorne gebracht werden? Das Beugen ohne vorgebrachte Knie reduziert den Drehmoment des Knies um zirka 20%, doch dies wird auf Kosten einer 10-fachen Steigerung des Hüft-Drehmoments erkauft (7). Sofern du nun sehr schwache Knie (aber eine Eisenhüfte) besitzt, stellt dies keinen guten Tauschhandel dar.
  3. Viel wichtiger ist, dass die alte Forschung an Kadavern die Effekte auf das Gewebe um das Knie herum nicht mit ins Kalkül aufgenommen hat. Während tiefer Kniebeugen wird die Rückseite des Knies durch die hintere Oberschenkelmuskulatur und die Waden unterstützt. Zusätzlich stülpt sich das umgebende Gewebe darum, um die Last zu verteilen. Als Folge davon resultieren retropatellare Spitzenkompressionskräfte und -stress bei zirka 90° der Kniebeuge, was die halbe Beugetiefe ist. Tiefe Kniebeugen sind daher mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit – aus Sicht der Kniegesundheit – sicherer, als halbe Beugen (8).

4 Kniebeuge Mythen, die du beerdigen solltest

Dürfen die Knie bei der Kniebeuge über die Zehenspitzen hinausragen? Diese Diskussion währt bereits ewig und die Antwort lautet: Ja, dürfen sie. Bei manchen Personen ist es (anatomisch) sogar vorteilhafter, wenn sie es tun. (Bildquelle: Fotolia / andy_gin)

Kniebeuge Mythos Nr. #3: Du solltest das nach vorne lehnen um jeden Preis vermeiden

Viele Menschen denken, dass eine aufrechte Beuge die beste Beuge sei. Sie sieht am ansehnlichsten aus und erscheint am wenigsten anstrengend – klar, doch der Grad, wie stark du dich während der Kniebeuge nach vorne lehnen musst, hängt im höchsten Maße von der Körperstruktur (und weniger von der Übungstechnik).

Da die Langhantel über dem Zentrum der Gravitation ruhen muss, um die Balance zu wahren, sorgen lange Femurknochen und ein kurzer Torso dafür, dass du die Hüfte mehr beugen musst, um das nach vorne fallen zu vermeiden, verglichen mit einer Person, deren Körper wie dazu gemacht erscheint zu beugen (kurze Oberschenkel + langer Torso), die mit Leichtigkeit in eine tiefe Beuge kommt, während sie gleichzeitig eine aufrechte Position bewahrt.

Hier ist ein 1-minütiges Video, welches illustriert, welche Auswirkungen die Länge deiner Körperpartien auf deine Beuge-Technik besitzt:

Squats Part 1: Fold-Ability and Proportions

Weiterhin gibt es einen natürlichen „Sticking Point“ bei der Beuge, der um 100° der Kniebeuge auftritt (9). Hier bist du ganz klar in einem biomechanischen Nachteil, insofern ist es nur natürlich, dass dies der härteste Punkt des Lifts ist. Dies hat nur wenig mit einem beabsichtigten nach vorne lehnen (verglichen mit den Armmomenten deiner Muskulatur, der Länge-Spannung-Beziehung und anderen Faktoren, welche die Kraft- und Widerstandskurve der Übung beeinflussen), zu tun.

Das exzessive nach vorne lehnen kann also für einige Menschen zu einem Problem sein, aber für einen Großteil der Personen ist das nach vorne lehnen während der Kniebeuge absolut normal.

4 Kniebeuge Mythen, die du beerdigen solltest

Exzessives nach vorne lehnen bei Kniebeugen ist für manche Menschen ein Problem, aber für einen Großteil der Trainierenden kein Problem und absolut normal. (Bildquelle: Fotolia / Kurhan)

Kniebeuge Mythos Nr. #4: Kniebeugen ist eine gute Übung für die hintere Oberschenkelmuskulatur

Kniebeugen sind in der Tat eine großartige Übung für den Quadrizeps und die Gesäßmuskulatur (wie bei Kniebeuge Mythos Nr. #1 erörtert). Sie sind jedoch eine überaus schlechte Übung für die ischiocurale Muskulatur (hinterer Oberschenkel).

Kniebeugen werden gemeinhin als effektive Übung für die hintere Oberschenkelmuskulatur dargestellt, weil die hintere Oberschenkelmuskulatur die Hüfte streckt. Es stimmt, dass drei der Köpfe der Ischiocurlamuskulatur die Hüfte streckt: Der lange Kopf des Biceps femoris und die beiden Semis (Semitendinosus und Semimembranosus).

Aber hier liegt das Problem: Alle 4 Köpfe der ischiocuralen Muskulatur beugen das Knie (der kurze Kopf des Biceps femoris streckt die Hüfte überhaupt nicht). Ein Muskel kann sich nicht dazu entscheiden, auf ein Gelenk zu wirken und auf ein anderes nicht. Entweder es wird eine Spannung produziert oder nicht. Und wenn eine Spannung entsteht, dann wird an beiden Enden gezogen, daher würde eine hohe Spannung der hinteren Oberschenkelmuskulatur die Knie beugen. Doch damit die Knie aufrecht stehen, musst du sie strecken, nicht beugen.

Das ist der Hauptgrund, wieso der Quadrizeps aktiv ist. Die Aktivierung der hinteren Oberschenkelmuskulatur sabotiert daher auf direkte Art und Weise die Arbeit der Quadrizepse. Die Ischiocurlamuskulatur könnten nur dann maximal involviert werden, wenn die Quads stark genug wären, um ihren Job zu erledigen, während sie den Moment der Beuge des Knies, der durch die hintere Oberschenkelmuskulatur realisiert wird, komplett aufheben. Passiert da?

Nein. Die Aktivierung der hinteren Oberschenkelmuskulatur bei der Kniebeuge kann so niedrig, wie bis zu 20% der maximalen freiwilligen isometrischen Kontraktion (MVIC) ausfallen oder die Hälfte dessen, was durch andere Übungen realisiert wird, welche die hintere Oberschenkelmuskulatur trainieren (10). Das Beugevolumen sollte daher zu etwa 50% auf die hintere Oberschenkelmuskulatur entfallen. Vermutlich weniger, da die hintere Oberschenkelmuskulatur – aufgrund ihrer Funktion als Kniestrecker –  keine so gute Dehnung erzielen.


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Abschließende Worte

Also gut – fürs Erste sollen dies genug Kniebeuge Mythen gewesen sein. Also ab dafür zum Curlen im Kniebeuge-Rack.

Quellen & Referenzen

(1) Wretenberg, P. / Feng, Y. / Arborelius, LP. (1996): High- and low-bar squatting techniques during weight-training. In: Med Sci Sports Exerc. URL: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/8775157.

(2) Gullett, JC., et al. (2009): A biomechanical comparison of back and front squats in healthy trained individuals. In: J Strength Cond Res. URL: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/19002072.

(3) Contreras, B., et al. (2016): A Comparison of Gluteus Maximus, Biceps Femoris, and Vastus Lateralis Electromyography Amplitude in the Parallel, Full, and Front Squat Variations in Resistance-Trained Females. In: J Appl Biochem. URL: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26252837.

(4) Sinclair, JK. / Brooks, D. / Atkins, S. (2017): An examination of the hamstring and the quadriceps muscle kinematics during the front and back squat in males. In: Balt J Health Phys Activity. URL: http://clok.uclan.ac.uk/17473/.

(5) Adam, KJ., et al. (2018): Muscle Activation Patterns of Lower-Body Musculature Among 3 Traditional Lower-Body Exercises in Trained Women. In: J Strength Cond Res. URL: https://journals.lww.com/nsca-jscr/Abstract/2018/10000/Muscle_Activation_Patterns_of_Lower_Body.10.aspx.

(6) Gallagher, S., et al. (2005): Torso flexion loads and the fatigue failure of human lumbosacral motion segments. In: Spine (URL: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/16227888.

(7) Fry, AC. / Smith, JC. / Schilling, BK. (2003): Effect of knee position on hip and knee torques during the barbell squat. In: J Strength Cond Res. URL: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/14636100.

(8) Hartmann, H. / Wirth, K. / Klusemann, M. (2013): Analysis of the load on the knee joint and vertebral column with changes in squatting depth and weight load. In: Sports Med. URL: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23821469.

(9) van den Tillaar, R. / Andersen, V. / Saeterbakken, AH. (2014): The Existence of a Sticking Region in Free Weight Squats. In: J Hum Kinet. URL: https://www.degruyter.com/downloadpdf/j/hukin.2014.42.issue-1/hukin-2014-0061/hukin-2014-0061.pdf.

(10) Ebben, WP. (2009): Hamstring activation during lower body resistance training exercises. In: Int J Sports Physiol Perform. URL: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/19417230.



Bildquelle Titelbild: Fotolia / sportpoint


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Online Physique Coach, Fitnessmodell und wissenschaftlicher Autor – Menno Henselmans hilft Trainierenden, die es Ernst meinen, dabei ihre ideale Physique zu erreichen, indem er auf Bayes’sche Methoden zurückgreift. Folge Ihm auf Facebook, Twitter und check seine persönliche Website für weitere frei verfügbare Artikel ab.

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