Die Craig Story

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Für den heutigen Artikel sei gesagt: Wer den Pathos nicht verträgt, der l(i)ebt den Sport vermutlich nicht so sehr, wie einige der Leute, die diesen Text bereits in seiner Ursprungsform – in englischer Schriftsprache – genossen und honoriert haben.  Ich gebe zu, dass die Idee für eine Übersetzung bereits seit längerem in meinem Kopf herumspukte; etwas, dass ich schon seit Längerem in Angriff nehmen wollte, doch bis heute nicht geschafft hatte.

Zuerst einmal gilt mein Dank daher dem guten ad89, welcher vermutlich einigen von uns bereits als Autor des kleinen, aber feinen, lebensphilosophischen Kompendiums Pusherstories aus dem Ghetto ein Begriff sein dürfte (die Facebook-Seite, pasend zum Buch, findet ihr hier. Ein knappes Review findet ihr auf Eisenhart.) Lasst euch von dem Titel nicht täuschen – das Werk ist echt lesenswert, wenn man ein bisschen über sein Leben nachdenken möchte)

Warum bedanke ich mich bei ihm? Das hat logische Gründe, denn zum einen hat er seinerzeit das Original The Craig Story,“ in diversen Foren gepostet und so für dessen Bekanntmachung im deutschen Kraftsportbereich gesorgt und zum Anderen hat er den ganzen Text in Windeseile ins Deutsche übersetzt, nachdem er von meinen Plänen erfahren hat. Und er hat einen guten Job abgeliefert. :cool:

Es ist mir daher eine Freude und Ehre euch die deutsche Version von „The Craig Story“ präsentieren zu können. Fame und Credits gehen alleine an ad89 für diese massiv-gute Übersetzungsleistung.

Worum gehts?

„The Craig Story“ ist eine bewegende Kurzgeschichte aus dem Kraftsportmillieu. Wieviel davon Fakt und wieviel davon Fiktion ist, bleibt vermutlich auf ewig ein Rätsel. Persönlich finde ich es schade, dass es nicht mehr von diesen großartigen motivierenden und bewegenden Geschichten gibt. Derartige Erzählungen geben uns oft Anlass, um über unser eigenes Leben nachzudenken, es zu reflektieren und uns zu fragen: Sind wir uns eigentlich noch auf dem richtigen „Steuerkurs“ oder treiben wir bereits ziellos und verloren im Meer herum. Sind wir Kapitän unseres Glücks oder doch nur ein Passagier, der keinen Einfluss auf den Zielhafen hat?

Solche Geschichten lehren uns etwas über das Leben, wecken unsere Wertschätzung und erinnern uns stets daran, wie glücklich sich die meisten von uns schätzen lassen können, wenn sie ihr Leben einigermaßen auf die Reihe bekommen haben.

Zugegeben, vielleicht erweitert der heutige Artikel nicht euren Horizont, wenn es um die biochemische Funktionalität des menschlichen Körpers geht. Er lehrt euch nichts Neues über wissenschaftliche Trainingsansätze oder irgendwelche abgefahrenen Studien. Nein, werte Leser, der heutige Appell spricht eher eure philosophisch-nachdenkliche Seite an und…euer Herz. Denn so sehr wir uns auch im Training quälen, und diszipliniert und zielorientiert verhalten, so gilt es doch einen essenziellen Punkt im Leben nicht zu vergessen: ´cause it is not about where you come from. Its about heart.“

In diesem Sinne wünsche ich viel Spaß mit „Der Craig Story“ powered bei ad89.

Die Craig Story

Aus dem Englischen übersetzt von ad89 / copyright by Anonymous

Teil 1: Craig

Craig.

Er war ein ruhiger Typ. Einer dieser Menschen, bei denen Du Dir vorstellst, dass sie irgendwann eine Knarre rausholen und Amok laufen. Er hat nie gesprochen, kam in seinen verranzten, dreckigen Sportsachen in das Studio und hat unauffällig vor sich hin trainiert. Alles, was ich erkennen konnte war, dass er etwas über vierzig sein musste, übergewichtig war und einfach etwas trainiert hat, um nicht aus der Form zu kommen. Obwohl er niemanden wirklich störte, bemerkte ich, dass er die Zielscheibe vieler böser Sprüche und Witze im Studio war. Keiner der anderen Mitglieder hatte bisher mit ihm geredet, daher wusste niemand seinen wirklichen Namen. Also gaben sie ihm einen Spitznamen: Pigpen (Anm.: Schweinestall) 

Er war – simpel gesagt – das kleine Mysterium des Studios, von dem niemand etwas wusste, das niemand wirklich einschätzen konnte.

Ich war noch recht jung, hatte zu dem Zeitpunkt ungefähr 4 Jahre Trainingserfahrung und dachte, ich wäre der Größte im Studio. Ich dachte, ich wüsste alles – und, dass Steroide direkt vom Teufel kämen. Aber ich war mit viel Herz dabei und trainierte härter als der durchschnittliche Studio-Hampelmann. Unser Studio, auch wenn es durchaus gut ausgestattet war, war an sich ein Fitnessclub. Die meisten Mitglieder waren eher mit ihren Haaren, ihrer Kleidung und dem sozialen Leben im Studio beschäftigt, als mit hartem Training. Pigpen fiel einfach auf wie ein bunter Hund in diesem Lifestyleschuppen. Oft dachte ich, er wüsste bestimmt, dass alle über ihn reden. Ich war mir sicher, er wüsste, was sie über ihn sagen, wie sie ihn nennen – es war so offensichtlich, wie sie sich verhielten. Er MUSS es mitbekommen haben. Die anderen waren grausam. Ein kleiner Scherz über ihn hier, ein verbaler Seitenhieb da, alles ging auf diesen Typen in seinem grauen, ausgeleierten Trainingsanzug. In meinen Augen war das nicht witzig. Es war eher eine unsichere Art Schikane. Es war Mobbing. Aber Pigpen ignorierte es und zog sein Ding durch, wie mit Scheuklappen auf den Augen.

Chris, ein Freund von mir, war der Besitzer dieses Studios. Wir hatten früher zusammen in einem anderen Schuppen gearbeitet, er war einst ein Wettkampfbodybuilder. Eines Tages stieg er in die Fitnessbranche ein und renovierte Häuser als Nebenjob.

Normalerweise unterhielt ich mich mit Chris ein paar Mal die Woche, immer, wenn ich ihn sah. Meistens, wenn ich mein Training beendet hatte und auf dem Weg nach draußen war.

An einem solchen Abend stand ich an der Theke und habe mit Chris und ein paar Hilfskräften des Studios gesprochen, als Pigpen an uns vorbei kam, um zum Ausgang zu gehen. In diesem Moment täuschte eine  Hilfskraft an der Theke ein Husten vor und keuchte ein leichtes „PIGPEN!“.

Pigpen zuckte nicht einmal zusammen. Aber ich sah ein leichtes Zusammenkneifen in seinen Augen – ich wusste, er hat es gehört. Ohne jede Reaktion ging er durch die Tür.

Als die Tür hinter ihm zu fiel, wandte sich die Servicefrau an Chris und frage – “Ich verstehe einfach nicht, wieso Du ihn hier überhaupt noch trainieren lässt!“ Chris schaute sie mit einem durchbohrenden Blick an und sagte ruhig “so lange ich hier der Besitzer bin, wird er hier immer willkommen sein! Verstanden?“ Kleinlaut murmelte sie „ja.“

Aber Chris war noch nicht fertig. Er war wirklich wütend, aber er versuchte, cool zu bleiben und sagte “dieser Mann ging durch die Hölle. Und zurück. Ihr müsst ihn respektieren! Nur, weil Eure Eltern Eure Rechnungen zahlen, gibt Euch das kein Recht, über jemanden zu urteilen, den Ihr nicht verstehen könnt!“

Die Mitarbeiter schauten erstaunt und ein wenig verschämt. Zu Recht.

Ich fragte Chris, was es mit Pigpen auf sich hatte. Er erzählte mir, dass Pigpen lange Zeit ein sehr erfolgreiches Leben führte. Eine stabile Karriere, Wettkampfbodybuilder mit Potential zum Profi. Ich wollte wissen, was ihm zugestoßen ist. Chris antwortete schlichtweg – „Das Leben“.

Pigpen wurde von seinem Vater groß gezogen, er hatte keine anderen Familienmitglieder. Seine Mutter starb, als er noch ein Kleinkind war – und sein Vater wurde von einer seltenen Art von Krebs befallen. PigPen gab jeden Cent aus, um medizinische Hilfe für seinen Vater zu bekommen. Und, um ihm ein schönes Leben zu ermöglichen. Im Endeffekt starb sein Vater – PigPen verlor viel Geld, seine Frau und seine Wettkampfaussichten gingen den Bach runter. Er durchlebte eine Zeit voller finanzieller Probleme und hat sich nie wieder komplett davon erholt.

Vor 5 Jahren war er in einen Autounfall verwickelt, der ihn beinahe das Leben gekostet hat. Daraufhin lag er erst einmal einige Monate im Koma. Die Versicherung zahlte zwar seine Reha und konnte ihn finanziell wieder auf die Beine stellen, aber weit entfernt von früherem Wohlstand. Nur so viel, dass er eben davon leben konnte.

Wir waren alle platt. Ich war sprachlos. Ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt sagen sollte. Chris schaute mich an und meinte: “Falls Du jemals was übers Bodybuilding erfahren möchtest…frag ihn.“

Die Wochen darauf fühlte ich mich immer schlecht, wenn ich Pigpen im Studio sah. Ich wusste nicht, wie ich ihn anschauen sollte – die Leute machten immer noch ihre Witze über ihn und das machte mich immer wütender. Aber ich konzentrierte mich weiter auf mein Training.

Eines Tages, als ich Brust trainierte, war Pigpen direkt neben mir und curlte. Es machte für mich keinen Sinn, dass er nur die 12,5er Kurzhanteln nahm. Der Typ war so riesig. Wie gesagt – übergewichtig. Aber große Schultern und eine massive Brust. Er wog bestimmt um die 125kg.

Für einen kurzen Moment schob Pigpen seinen Hemdärmel hoch, um sich am Arm zu kratzen. Verdammt. Ich habe noch nie so brachiale Unterarme gesehen. Riesige Keulen, durchzogen von einem Venennetz, das einem Schlauchsystem glich. Ich war fasziniert.

Ein wenig schüchtern ging ich ein paar Schritte rüber und sagte: “Sorry?”. Langsam drehte er sich um. So langsam und kontrolliert, als hätte er eine Halsverletzung. Ich wurde ein bisschen unsicher und sagte nervös „Hey, ich heiße Jay“, während ich ihm meine Hand reichte.

Er schaute mich emotionslos an. Mit jeder Millisekunde wurde mir die Situation ein bisschen ungeheurer. Chris hat mir erzählt, dass Pigpen durch diese schwere Zeit gegangen ist – aber er hat nicht erwähnt, ob er geistig noch fit ist?

Dann sprach er zu mir. Mit einer ernsten Stimme sagte er:

„Craig. Ich heiße Craig.“

Es war, als hätte ihn  schon so lange niemand mehr nach seinem Namen gefragt, dass er schon fast vergessen hätte, wie er hieß. Er gab mir seine Hand – die vermutlich stärkste und härteste Hand, an die ich mich erinnere. Er hatte einen unglaublich festen Griff.

Ich fragte aus Reflex: “Fuck, wie hast Du Deine Unterarme so hinbekommen?” Er fing an zu erzählen, das ser eigentlich in einem anderen Studio trainiert. Ein Eisenkeller, in dem er richtig schwer trainiert – die Unterarme kämen von schwerem Kreuzheben, vom Rudern, von Shrugs. Ich meinte, dass ich nicht so wirklich oft heben würde – daraufhin meinte er nur: „Du musst heben, Junge.“

Du wirst Dich da in mich reinversetzen können. Ich war jung, leicht zu beeindrucken und hatte somit gleich beim nächsten Rückentraining die Langhantel vor mir liegen. Ich war verdammt schwach. Ich dachte, die 140kg würden mir die Wirbelsäule zerschießen. Aber ich blieb motiviert und pushte mich immer weiter vorwärts.
Ich habe bemerkt, dass Craig mich beim Heben beobachtet. Nach einiger Zeit wurde ich ein ganz passabler Deadlifter. Die 215kg stellten noch eine Herausforderung, aber kein Problem mehr dar – auch optisch hatte ich mich gut weiterentwickelt. Abgesehen von meinem Schultergürtel wurde ich immer und immer wieder auf meine Unterarme angesprochen. Ich war ziemlich beeindruckt, dass ich solche Ergebnisse erfahren würde – nur durch einen einzigen Tipp von Craig.

Also ging ich häufiger zu ihm hin, um Ratschläge zu bekommen. Seine Aussagen waren immer so einfach. Eigentlich zu einfach, als dass sie wirklich etwas bewirken könnten. Aber es waren immer präzise, gute, effektive Aussagen.

Die anderen Leute behandelten ihn immer noch wie Scheiße. Aber ich war nett zu ihm, er half mir immer wieder. Bei allen möglichen Gelegenheiten. Die letzten Monate wurde ich nicht nur stärker, sondern begann langsam, die Optik eines Wettkampfbodybuilders zu erlangen. All das eigentlich nur, weil mir dieser mysteriöse Mann, mit dem niemand sprach, immer wieder geholfen hat.

Eines Tages sah Chris mich einmarschieren und winkte mich zu sich in sein Büro. Er teilte mir mit, dass der Eisenkeller, in dem Craig trainiert hat, dicht machen musste – Craig muss verdammt enttäuscht gewesen sein. Nachdem ich meine Sportklamotten angezogen hatte, sah ich, wie Chris und Craig miteinander reden. Keine Ahnung, worum es ging – aber Chris nickte und beide gingen quer durchs Studio zur riesigen Abstellkammer, in der die defekte Studioausstattung vor ihrer letzten Reise auf den Wertstoffhof gelagert wird. Nach einer halben Minute kamen beide wieder hinaus – Craig hatte eine 22,5kg-Chromhantelstange dabei, ging auf mich zu und meinte: „Bock auf eine Runde Kreuzheben?“ – meine Antwort dürfte klar sein.

Wir machten ein paar Aufwärmsätze mit 60kg, Craig an der Chromstange, ich an der normalen Standardhantelstange.

Ich wusste nicht, wie weit ich gehen könnte. Das heftigste für mich waren bisher diese 215kg – und das war schon ein wenig her. Seitdem habe ich nur sporadisch gehoben, um die 200kg würden vermutlich meine Grenze darstellen.

Beim Aufwärmen sah Craig aus, als würde er Styroporgewichte bewegen. Ich fühlte mich richtig gut, als ich die 180kg in den Händen hielt und 9 Wiederholungen absolvierte. Für mich war das ein starker Satz. Craig wärmte sich damit immer noch auf.

Dann meinte Craig: “Komm mal mit, ich brauche Dich kurz!” – wir gingen zurück zum Lagerraum, der voller alter Cardiogeräte, verrosteten Hantelstangen und kaputten Scheiben war.

Craig bückte sich, um eine Platte aufzuheben. Sie sah aus wie eine 20kg-Scheibe, aber laut Gravur wog sie 45kg. Er hob sie auf und meinte: „nimm Du die andere“. Scheiße, war die schwer. Durchaus kompliziert zu tragen, aber der Blitz hätte mich beim Scheißen treffen sollen, wenn Craig mich damit herumeiern sehen würde. Wir brachten beide Scheiben zu unserer kleinen Hebeplattform und steckten sie an die Hantelstange.

Craig bückte sich vor der Stange, rollte sie in seinen Händen ein wenig vor und zurück – und mit einem peitschenden Schwung flog die Stange nach oben. Ich hörte die Platten scheppern. 15 Wiederholungen lang. Keinen blassen Schimmer, wie viel Gewicht inzwischen auf der Stange war, aber es müssen über 270kg gewesen sein. Ich konnte mir die Schmach nicht erlauben, nicht auch ein wenig mitzuziehen und wollte eine 10er auf das eine Ende packen – noch bevor ich mich bücken konnte, um die Aufnahme anzuheben, meinte Craig kopfschüttelnd: „Ach Junge..“, während er die fünf Finger seiner rechten Hand zeigte. Ich schaute zweifelnd und meinte: „äh.. fünf?! Dein Ernst?“. Craig nickte.

Also legte ich die 10er Scheibe wieder weg und holte zumindest mal 20er Scheiben, während in meinem Hinterkopf eine Mischung aus „haha, der meint das echt ernst“ und „fuck, das schaff ich nie im Leben“ rumwirbelte. Egal, ich musste es versuchen und machte mich fertig für den Satz.

Ich hörte Craig sagen: „Junge, lass Dich nicht von dieser Stange da verarschen“.

Nun… keine Ahnung, warum, aber die Art, wie er es sagte – ich dachte mir: „Nein, Alter! Ich lasse mich davon nicht unterkriegen!“ – griff die Bar, holte tief Luft, befreite meinen Geist und zog an. Die Stange kam langsam hoch. Minimale Beschleunigung. Ich fühlte, wie sie meine Schienbeine aufschürfte und gegen meine Knie stieß, aber dieses verdammte Gewicht bewegte sich! Ich hätte mir fast in die Hose geschissen. Sie bewegte sich immer höher und am Ende stand ich da, stolz, mit der Stange in der Hand – woraufhin ich sie mit einem Höllenlärm abließ. Ich war völlig aufgedreht.  225kg hatte ich noch nie gehoben. Craig lächelte mich an – ich sah ihn wirklich lächelnd – und meinte: “Yep. Sehr schön!“

Einige Leute haben unser Spektakel zur Kenntnis genommen. Der Fitnesspöbel war es nicht gewohnt, hohe Gewichte in diesem Stil bewegt zu sehen. Chris kam auf uns zu, mit einer gelben Gummihantelscheibe. 45 kg. Er sagte: “Jay, im Büro ist noch eine – holst Du sie?” Natürlich war sie genauso schwer wie die 45er, die mir kurz vorher schon fast aus den Händen gefallen wäre, als ich sie neben Craig aus der Abstellkammer geholt hatte. Aber auch diesmal schaffte ich den Transport und montierte sie auf Craigs Langhantel.

Chris schaute kurz drüber, drehte sich zu Craig und meinte kurz und knapp: “365”. Craig nickte nur. Ich dachte, ich bin im falschen Film – ich habe mein Leben lang noch nie so viel Gewicht auf einer Langhantelstange gesehen.

Craig schaute die Stange mit einem kalten, durchdringenden Blick an. Er atmetete tief ein und langsam, bewusst, aus. Er wirkte für mich, als würde er gerade meditieren und sich völlig abschotten. Als würde er tief im innersten auf die Reise an einen Ort gehen, an dem er seine Kräfte befreien kann.

Immer mehr Menschen versammelten sich um uns, bestimmt 12 Männer und Frauen. Mein eigenes Herz bebte vor Aufregung, als Craig sich in die Ausgangsposition begab. Craig explodierte systematisch. Stufe für Stufe. Sein Gesicht wurde feuerrot, seine Halsadern traten dermaßen hervor, dass ich Angst hatte, sie könnten platzen. Es war ein unglaubliches Spektakel, eine Erscheinung von purer, brachialer Kraft.  Noch bewundernswerter war, dass er dieses Gewicht nicht ein mal hochgehoben hat – nein, sechs verdammte Wiederholungen. Sechs Wiederholungen, bevor der Aufschlag der Hantelstange ein kleines Epizentrum auf Richterskalen wert gewesen wäre.

Craig blieb für einen Moment gebückt. Sein Atem war mehr ein Hecheln, bevor er sich langsam erholte und nickend aufstand. Er schaute zu mir rüber und sagte „Du bist dran“ – während er wieder auf die 225kg-Ladung zeigte. Ich dachte, jetzt dreht er völlig durch. „Wie jetzt.. noch mal?!”

Teil 2: 245 kg

“Nein. Mit mehr Gewicht.”

Keine Ahnung, ob das noch unter Genie oder schon unter Wahnsinn gezählt hat – ich nahm unsicher eine 10kg-Scheibe in die Hand und schaute ihn fragend an. Als würde ich Bestätigung wollen, dass es genug wäre. Er nickte abermals und somit kamen pro Seite 10kg dazu.

Daraufhin sagte Craig etwas, was mich wirklich bewegte. Nicht, weil der Satz so toll wäre, sondern, weil er von ihm kam. Er meinte mit einem ruhigen Ton – wie, wenn ein Vater seinem kleinen Kind etwas erklärt: „Junge, das Gewicht da ist ein Scheißdreck. Auf der Welt gibt es viel schlimmere Sachen als das da.“

Ich stand für einen Moment blöd da, nicht wissend, was ich jetzt mit dieser Information anfangen sollte. Aber nachdem ich ein wenig nachsinnte, traf die Kombination von Aussage und Absender mich mit voller Wucht. Er hatte so verdammt Recht. Gewicht ist ein kleines Ding im Studio. Das Leben ist ein unfairer Bastard und wird Dich immer und immer wieder niederschlagen. Es ist unvorhersehbar und unnachgiebig. Diese mit Eisen beladene Stange ist nur ein Gegenstand, keineswegs Vergleichbar mit den Gewichten des Lebens.

Ich griff die Stange, ich hatte einen Kloß im Hals und konnte nicht mehr klar denken. Das Adrenalin durchpumpte meinen Körper. Meine Zughilfen wurden meine besten Begleiter für diese Aufgabe. Ich griff immer starker, zog sie immer fester und wurde eins mit dieser Stange. Wir waren wie aus einem Guss. Mein Kopf wurde wieder klar. Obwohl alle außen rum gafften wie blöd, konnte ich endlich wieder ich selbst sein. Nur ich. Wie von einem Stromstoß getrieben hob ich an. Es ging langsam. So langsam… die Haut an meinem Schienbein wurde immer heftiger abgeschabt, Craig schrie: “KOMM SCHON!”  – ich zog. Ich zog, während ich spürte, wie meine Fersen sich in den Boden gruben, wie die Zughilfen sich in das Fleisch schnitten. Zentimeter für Zentimeter suchte die Stange ihren Weg nach oben und es kam mir vor, als würde es zwanzig Minuten dauern. Aber verdammt nochmal, ich hatte es geschafft. Mein Gesicht im Spiegel war knallrot, meine Venen gleichen einem Schaltkreis. Beim Ablassen kollabierte ich halb.

Wenn ich nicht dieses abartige Pfeifen in den Ohren gehabt hätte, hätte ich vielleicht verstanden, was die Fitnessmeute um mich rum gelabert hat. Nachdem die mir aber herzlich egal waren, schaute ich erschöpft und keuchend zu Craig. Kurz und knapp – wie immer – meinte er nur: „Siehst Du?”

Chris klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Ich konnte nicht glauben, dass ich das wirklich geschafft habe.

Craig stand auf, lief zu dem Scheibenständer und holte zwei zusätzliche 20kg-Scheiben, die er jeweils an die Enden seiner Langhantel schob.

Ich schaute ihn an, als würde ich jemanden auf den Weg in die Gaskammer betrachten. Chris sagte leise: “400kg.. genau so wie früher, Bruder.” Craig grinste. Und nickte.

Inzwischen dürften rund 30 Leute um uns rumgestanden haben. Die Bullshitlaberer, die Dummen, die interessierten. Manche fragten, wie viel das sei, manche standen nur ungläubig da. Nicht glaubend, dass dieser Berg von Mensch so viel Kraft haben würde.

Craig beugte sich erneugt. Als würde er sich vor seinem Scharfrichter verneigen.

Doch er stand auf – und riss sich sein Sweatshirt runter. Der Anblick war viel zu krass. Dieser Mann bestand nur aus Muskelplatten und Adern – komplett bedeck von Tattoos. Auf den Rückseiten seiner Arme standen Wörter – “Ich bin nichts” rechts, “Ich fühle nichts” links. Sein Nacken bestand aus zwei Kamlehöckern. Er war nicht adipös. Er war einfach ein verdammter, massiver Freak. Dieses Skelett war eingebettet in harte Muskeln und Venennetze, erschaffen von Jahren des Schmerzes und des Kampfes im Leben und im Studio. Unglaublich.

Craig zog seinen Gewichthebergürtel an und legte die Zughilfen an die Stange. Es war ruhig geworden. Nur Chris sagte “Du schaffst das, Craig!” – alle außen rum fingen an, ihn anzufeuern. „Komm schon, Craig!“ / „JA MAN!“ – es war toll! Craig atmete wieder tief, systematisch die Stange vor- und zurückrollend.

Er schaute in den Spiegel und ich habe keine Ahnung, was er darin sah – aber seine Nasenflügel fingen an, sich aufzublähen, er sah verdammt angepisst aus, seine Augen waren weit aufgerissen – als würde er weinen. Er blickte kalt auf einen Punkt am Boden, direct vor der Stange. Wo auch immer er gerade geistig war – bei uns war er jedenfalls nicht. Vermutlich war er an einem sehr dunklen Ort seines Lebens, an dem ihm das Leben alles genommen hatte. Vermutlich wühlte er gerade in seinem Emotionskessel und brachte puren Hass zu Tage. Hass, Qual, Schmerz. Als würde er all das in diese Stange leiten. Er atmete immer härter und noch bevor er anfing, die Stange zu heben, fing er an, am ganzen Körper zu zittern – ich sah ihn durch den Spiegel an und meinte “Du schaffst das, Alter!”. Er nickte mit einem irren Blick und keuchte: „ICH SCHAFFE DAS!“ – in diesem Moment begann sein Körper, unkontrolliert Kraft auszuschleudern. Getrieben von seinen Emotionen bog sich die Stange, seine Nackenmuskeln wurden übersät von roten Punkten und er brüllte „FUUUUUUUUUUUUCKKKK YYYYOOOOOOU!!!“. Das Gewicht stockte – ich dachte, er würde die Stange fallen lassen. Aber seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht zuckte vor Qual und die Stange bewegte sich. Ich weiß nicht, ob es der Schweiß war, der von seiner Stirn tropfte – aber ich schwöre, ich sah Tränen in seinen Augen. Die Stange wanderte höher und höher, bis er sie auf Taillenhöhe hatte. Er stand dort mit der Langhantel in der Hand, öffnete seinen Augen und man konnte in die Mischung aus blutroten Augen und Tränen blicken. Keine Chance, seine ursprüngliche Augenfarbe zu identifizieren. Der Blick wie von einem Hai, kurz vor dem Biss.

Dann fiel er zusammen mit der Stange nach unten. Zuerst dachte ich, er wäre weggetreten – aber er hob kurz die Hand, um zu zeigen, dass er noch am Leben ist. Die Meute klatschte. Ich konnte nicht fassen, was ich hier gerade gesehen habe.

Als er kniend seinen Atem suchte, ging ich zu ihm hin und sagte: “Ich habe noch nie etwas so spektakuläres gesehen. Sauber gehoben, mein Freund!”. Er hechelte noch vor sich hin, aber – er nickte wieder.

Einer der Fitnesstrottel rief: “ALTER PIGPEN, SETZ DEINEN STOFF MAL AB!” – ich drehte mich um und verlor die Kontrolle. Dieser 30jährige Yuppie mit seinem UnderArmour Tanktop und seinen Zahnstocherarmen hatte überhaupt nichts gelernt. Ich griff seinen Arm im Gehen, er drehte sich erschrocken um – in seine Augen blickend rief ich „ER HEISST CRAIG VERDAMMT NOCHMAL! C-R-A-I-G!“

Der Trottel schaute mich beschämt an und nuschelte: “Sorry. Er heißt Craig”. Dann schaute er auf meine Hand, die sich noch immer in seinen Arm bohrte. Ich ließ ihn schnell los und schaute zu Craig, der – immer noch nach Luft ringend – auf einer Bank saß. Er nickte.

Craig ging noch ungefähr ein Jahr in dieses Studio, wir haben öfter über Training und Bodybuilding geredet. Ich erinnerte mich gerne an unseren Deadlift-Tag.

Zu diesem Zeitpunkt habe ich 265kg gehoben. Alles nur danke Craigs Pflege.

Nach diesem Jahr verschwand Craig – Chris sagte, dass er ihn nicht gesehen hat, aber davon gehört hat, dass Craig weggezogen sei. Ich hatte mit Craig nur im Studio gesprochen – er hatte kein Handy, ich habe nie seine Wohnung gesehen und hatte keinen blassen Schimmer, wo er wohnte.

Auch wenn ich so gut wie nichts über diesen Typen wusste, betrachtete ich ihn als einen meiner engsten Freunde.

Die Jahre vergingen und ich trainierte sehr hart, hatte meine ersten Aufritte als Wettkämpfer und schaffte es bis auf die nationale Ebene. Oft fragte ich mich, wie es Craig erging. Ich hätte gerne wieder mit meinem alten Freund gesprochen und seine Tipps bekommen – wie damals, einfache, simple Antworten. So viele Trainingsgurus versuchen, alles zu verkomplizieren, aber Craig benötigte immer nur ein oder zwei Sätze.

Dann, eines Tages, ging ich nach meinem Workout nach Hause und traf Polizisten vor meiner Tür. Die beiden gingen auf mich zu und fragten, ob ich Jay sei. Auf meine Bestätigung hin informierten sie mich, dass Craig verstorben sei. Er starb im Schlaf.

Ich fragte, wieso sie mir das erzählten. Einer der beiden Polizisten meinte, Craig hätte keine bekannten Familienmitglieder, die noch lebten und laut Testament sei ich sein nächster Angehöriger.

Ich war gut verwirrt. Sie sprachen mir ihr Beileid auf, aber ich konnte sie nicht wirklich hören. Als sie in ihr Auto stiegen und davonfuhren, stand ich bewegungslos in meinem Vorgarten – bis mich die Realität einholte. Ich ging ins Haus und rief Chris an.

Danach setzte ich mich hin und lies meinen Gedanken freien Lauf. Ich dachte an meinen Mentor aus der Jugend, an den Typen, den niemand verstand, an den Menschen, über den sich alle lustig machten – über den Freund, der vielleicht den größten Einfluss auf mein Leben hatte. Ein Mann weniger Worte – aber diese Worte hatten eine starke Prägung. Ich fühlte mich traurig. Die Welt hat gerade etwas so Gutes verloren – und bemerkt es nicht einmal.

Die nächsten Tage war ich in einem Nebel. Keine Ahnung, wie ich agieren sollte. Meine Mitarbeiter fragten, was los war und ich sagte, dass mein guter Freund gestorben sei.

Am Ende der Woche kam ich Stück für Stück besser damit zurecht – als ich jedoch nach der Arbeit zuhause ankam, stand eine Sendung für mich vor der Haustür.
Ich öffnete sie – es war ein mit Bleistift geschriebener Brief mit ein paar Fotos.

“Lieber Jay,

Wenn Du das hier liest, bin ich gestorben. Mein Leben war hart.. ziemlich hart. Für lange Zeit fühlte ich mich leer und das Studio war das einzige, was mich daran erinnerte, dass irgendetwas in mir drin noch am Leben ist. Der Schmerz beim Training und das ständige Weiterarbeiten erinnerte mich immer wieder an die Zeit, in der ich noch lebte. Ich habe Deine Wettkampfkarriere immer beobachtet und war auch auf einigen Deiner Auftritte. Ich bin stolz auf Dich, Junge.

Ich wollte Dir immer Danke sagen – aber wie Du weißt, bin ich kein Mann, der viel und gerne spricht. Ich wollte Dir danken für diesen Tag, an dem wir zusammen gehoben haben. Für diesen einen Tag, an dem ich mich wieder wie ein Mensch fühlte. Ich habe mich an diesem Tag so gut gefühlt wie nie im Leben. Du warst eine riesige Inspiration für mich – in einer Zeit, in der ich die Hoffnung verloren habe. Danke!

Dein guter Freund

Craig“

Als ich den Brief zu Ende gelesen hatte, erfasste mich ein fürchterlicher Heulkrampf. Ich hatte jahrelang nicht mehr geweint, aber jetzt winselte ich wie ein Baby.

Ich schaute auf die Fotos von meinen Shows. Sie wurden aus dem Publikum aufgenommen – Craig war bei meinen Auftritten und ich hatte keine Ahnung davon. Ich glaube, er behielt mich im Auge, damit er sicher ging, dass ich Fortschritte machen würde und nicht faul auf meinem Arsch sitzen bliebe. Ich weiß nicht, warum genau er da war – aber er war da und ich bin scheiß froh, dass er das mit ansehen konnte.

Mit den Fotos und dem Brief kam ein rechtsgültiges Dokument. Craigs letzter Wille. Ich überflog die ganzen Paragraphen, am Ende wurden die Eigentümer, die vererbt wurden, aufgelistet – da ich der einzige Erbe war, würde ich all das bekommen.

Er hinterließ eine gute Menge an Geld, einen Truck, sein Haus mit allen persönlichen Gegenständen – aber der letzte Gegenstand war unbezahlbar: Eine 22,5kg-Chromhantelstange.

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Bildquelle Titelbild: Wikipedia.org / Flickr / stu_Spivack; CC Lizenz

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