Wieso wir trotz Völlegefühl weiteressen: Tierstudie liefert wertvolle Einblicke zur Appetitsteuerung im Gehirn

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Wieso wir trotz Völlegefühl weiteressen: Tierstudie liefert wertvolle Einblicke zur Appetitsteuerung im Gehirn

Von Marius Krämer | Benötigte Lesezeit: 4 Minuten |


Das Gefühl kennt fast jeder: Du bist im Restaurant oder bei einem Familienessen und isst weiter, obwohl dein Magen schon bis zum Rand gefüllt ist und beinahe zu platzen droht. Vielleicht, weil deine Freunde noch essen oder weil du so eine Leckerei nicht alle Tage serviert bekommst.

Du kannst einfach nicht aufhören… was ist da los?!

Wieso wir trotz Völlegefühl weiteressen: Tierstudie liefert wertvolle Einblicke zur Appetitsteuerung im Gehirn

Laut einer neuen Studie sind zwei kleine Gruppen im Gehirn für den Kampf zwischen dem Stoppsignal und dem Drang weiter zu essen zuständig. Auch das Opioidsystem des Gehirns ist involviert, denn über die Einnahme von Naloxon, einen Opioid-Antagonisten, der Opiate im Gehirn blockt, kann man des Überessen stoppen.

Das Team der University of Michigan am Institut für molekulare und verhaltensgesteuerte Neurowissenschaften untersuchte in einer Mausstudie die beiden Neuronen POMC und AgRP, welche sich in dem Bereich befinden, der für die Motivation zuständig ist (1).

Vorangegangene Forschung aus diesem Bereich demonstrierte, dass dieses Areal des Gehirns für die Steuerung des Appetits zuständig ist. Das Gen POMC ist das erste erfolgreich geklonte Gen und spielt eine entscheidende Rolle in der Nahrungsaufnahme, Energieregulierung und im Bezug auf Übergewicht.

Allgemein agiert POMC als Bremse für die Nahrungsaufnahme, sobald es bestimmte Signale zugespielt bekommt, während AgRP wie eine Gaspedal wirkt – vor allem wenn Nahrungsknappheit herrscht.

Mit einem transgenen Ansatz versuchte das Team die Neuronen des POMC Gens optogen zu stimulieren. Sie erwarteten eine Verringerung des Appetits – die Ergebnisse zeigten allerdings einen gegensätzlichen Effekt: In den ersten 30 Minuten nach der Stimulation aßen die Mäuse eine gesamte Tagesration.

Zu welchen Ergebnissen führte die Studie?

Ebenfalls konnte ein direkter Zusammenhang zwischen den beiden Genen nachgewiesen werden, indem die Optogenetik genutzt wurde, um einzelne Gene spezifisch anzusprechen. Eine isolierte Stimulation von POMC hat eine ungewollte Stimulation von AgRP ausgelöst – der Grund hierfür liegt in der Entstehung der Gene: Sie stammen von den gleichen Zellen ab.

Das Team hat also gleichzeitig Bremse und Gaspedal betätigt und herausgefunden, dass das Signal der AgRP Zellen, das der POMC Zellen übermannt. Mit einem alternativen Ansatz wurden die POMC Zellen vollständig isoliert angesprochen – das Ergebnis war eine drastische Reduktion des Verlangens nach Nahrung.

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Die selektive Aktivierung von POMC Neuronen unterdrückt im Arc die Nahrungsaufnahme in gefasteten viralen POMC-ChR2 Mäusen. Die Stimulation der POMC Neuronen durch Blaulicht führte zu einer Reduktion der Nahrungsaufnahme in 4-Stunden gefasteten viralen POMC-ChR2 Mäusen (Grafik A.). Die Lichtstimulation von POMC Neuronen führte zu einer erhöhten Latenz des Pfotenleckens während des Hot-Plate Tests (Grafik B). Die erhöhte Latenz infolge der Lichtstimulation wurde durch eine vorherige Behandlung mit dem Opioid-Antagonisten Naxolon (10mg/kg) im Hot-Plate Test gehemmt (Bild C). (Bildquelle: Wei et al, 2018)

Mithilfe der CLARITY-Methode visualisierten die Forscher die Wege der Signale und zeigten in welcher Situation die Mäuse gesättigt waren und in welcher sie einfach weiter gegessen haben. Die Videos dieser Visualisierung kann man sich hier anschauen.

Aber auch mit diesen Ergebnissen war das Team noch nicht zufrieden – mithilfe der c-fos Aktivierung untersuchten sie die Neuronen weiter und konnten zeigen, dass sich die Effekte durch das gesamte Gehirn ziehen und Auswirkungen auf Funktionen wie Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Erinnerung haben.

Ebenfalls konnte gezeigt werden, dass eine Aktivierung von POMC Schmerzen blockiert, da es eine Reaktion im endogenen Opioidsystem hervorruft – dieser Effekte konnte interessanterweise durch das Medikament Naloxon reversiert werden. Auch eine Aktivierung von AgRP hat einen Effekt auf dieses körpereigene System zur Schmerzlinderung – eine Zufuhr von Naloxon führte zu einem verringerten Drang zu Nahrungsaufnahme.

Es lässt sich darauf schließen, dass dieses System ebenfalls eine Rolle für das Überessen spielt.

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Endogene Opioide spielen bei der Nahrungsaufnahme eine wichtige Rolle und erhöhten in den Tg POMC-ChR2 Mäusen die Menge an gegessener Nahrung. Durch die Gabe von Naxolon (2mg/kg und 10mg/kg) konnte die Nahrungseinnahme dosis-abhängig reduziert werden (Grafik A). Eine Stimulation mit Licht erhöhte indes die Nahrungsaufnahme der Nagetiere. Das Naxolon negierte die Effekte der Lichtstimulation bei höherer Dosierung (10mg/kg) stärker, als bei geringer Dosierung (2mg/kg). Mit Hilfe einer In-situ-Hybridisierung (molekularbiologische Methode zum Nachweis von Nukleinsäuren (RNA oder DNA)) zeigte sich, bei Vorbehandlung mit Naxolon, eine normalisierte bzw. verringerte Expression von cFos mRNA, die in bestimmtem Gehirnarealen für Motivation und Belohnung zuständig ist. (Bildquelle: Wei et al, 2018)

Was bedeutet die Ergebnisse für den Menschen?

Mäuse und Menschen sind zwar nicht gleich, allerdings vermutet das Team einen Einfluss des heutigen Überschusses an Gerüchen und Visualisierungen von Essen auf den Drang immer weiter zu essen. Auch soziale Interaktionen könnten eine entscheidende Rolle spielen. (bezüglich des Einflusses von Gerüchen/Visualisierung auf die Kalorienaufnahme hat Christian Kirchhoff in der 09/2018 Ausgabe unseres Magazins im Kontext der intuitiven Ernährung geschrieben). Eine Kombination dieser Auslöser kann dazu führen, dass wir einfach weiter essen, obwohl wir nicht ansatzweise hungrig sind – das Stoppsignal wird ausgesetzt.

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Was riecht denn da so gut? Inzwischen gilt es als erwiesen, dass die Wahl unserer Lebensmittel und die zugeführte Menge von sogenannten “food cues” (Umweltreizen), wie z.B. Anblick und Geruch, beeinflusst wird. Essen ist also keinesfalls (immer) nur eine reine Angelegenheit der Befriedigung von (physischem) Hunger. (Bildquelle: Fotolia / Vadym)

Es wird angenommen, dass die körpereigenen Sättigungssignale nicht stark genug sind gegen den Essensdrang anzukommen. Weitere Forschung soll nun die Wirkung von Blockern des Opioidsystems untersuchen und potenziell eine Diäthilfe hervorbringen.

Laut Huda Akil gibt es heutzutage eine vollständige Industrie, die sich nur damit beschäftigt dir Lust auf Essen zu machen – auch wenn du nicht ansatzweise hungrig bist. Gerüche, visuelle Reize, Verpackungen und emotionale Verknüpfungen können dich vermeintlich hungrig machen, auch wenn du gesättigt bist.

Wenn Gewichtsverlust zu deinen Zielen zählt, solltest du diese Ergebnisse beim nächsten Gang durch den Supermarkt oder der nächsten Fernsehwerbung definitiv im Hinterkopf behalten.



Quellen & Referenzen

(1) Wei, Q., et al. (2018): Uneven balance of power between hypothalamic pepidergic neurons in the control of feeding. In: Proceedings of the National Acadamy of Sciences. URL: http://www.pnas.org/content/115/40/E9489


Bildquelle Titelbild: Fotolia / Nomad_Soul


 

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