Von Kurtis Frank | Benötigte Lesezeit 16 Minuten |
Seit einigen Jahren ist es in der westlichen Zivilisation en vogue geworden eine ganze Reihe von Eigendiagnosen zu stellen. Und noch nie war es einfacher wie heute, denn schließlich helfen Dr. Wiki und Dr. Google nahezu kostenfrei um die vermeintliche Angst vieler zu nähren und sie in ihrem Glauben zu bestätigen.
Neuerdings erfreuen sich insbesondere Diagnosen zum Thema Nahrungsmittelintoleranzen (NI) reger Beliebtheit. Es beginnt eigentlich schon damit an, dass jemand am Abend zuvor ein Glas Milch getrunken hat und – nur weil er am nächsten Morgen ein verstimmtes Magengrummeln und einen quersitzenden Furz verspürt – sich gleich als laktoseintolerant deklariert. Tja, warum auch nicht? Immerhin hat man im letzten Gespräch am Mittagstisch von der lieben Freundin brühwarm erzählt bekommen, wie weit verbreitet doch diese niederträchtige LI ist und das viele Menschen – tagein, tagaus – damit Leben, ohne es jemals zu erfahren. (Verdammt! Wie haben unsere Großeltern es nur geschafft zu überleben?!). Der Hobby-Sherlock zählt nun eins und eins zusammen und stellt mit erschrecken fest, dass er wohl oder übel an einer solchen Milchzuckerunverträglichkeit leidet. Zeit im Kühlschrank aufzuräumen und die gute (teurere) laktosefreie Milch zu kaufen!
Geht es nur mir so? Sprießen Menschen mit Nahrungsmittelintoleranzen wie Pilze aus dem Boden oder handelt es sich eher um ein neu gegründestes Hypochondertum? Versteht mich nicht falsch: Die Intention dieses Artikels liegt jetzt sicher nicht darin begründet auf den Betroffenen herumzuhacken, denn derartige Unverträglichkeiten existieren und können im menschlichen Körper zu ernsthaften Schäden führen. Laktoseintoleranz, Glutenintoleranz, Fruktoseintoleranz – und wie sie alle heissen mögen – sind real und treten intra-individuell auf. Wenn ihr also die Vermutung hegt, dass ihr tatsächlich davon betroffen seid, dann klärt dies am besten mit eurem Hausarzt ab (mittlerweile gibt es einige probate Testverfahren) und verlasst euch nicht auf Diagnosen, die ihr ergoogled habt. Und: Lasst euch aber nicht übers Ohr hauen, denn mittlerweile wird auch bei der Heim-Diagnostik genug Schindluder getrieben (29).
Während also meine direkte Umwelt in einer Epidemie aus Unverträglichkeiten ertrinkt, habe ich mir zwei Fragen gestellt: 1. Wieviele sind wirklich betroffen und 2. Wieso treten derartige pathologische Symptome überhaupt auf? Oder spezieller ausgedrückt: Was steckt hinter der Glutenunverträglichkeit?
Was die erste Frage betrifft, so gibt es gehörige Schwankungen. Nelson/Ogden (2008) konstatieren etwa, dass knapp 2-20 % der Weltbevölkerung unter irgendeiner Form der Nahrungsmittelintoleranz leiden (basierend auf Daten aus Personenbefragungen) (30) Das klingt nach einer ganzen Menge oder? Doch wieviel Vertrauen kann man den befragten Personen wirklich schenken? Immerhin habe ich weiter oben schon meine Bedenken zum Hang der Hypochondrie geäußert. Eine sehr interessante Meta-Studie, die in der Schweizerischen medizinischen Wochenschrift erschienen ist, bestätigt derweil meine Bedenken (und das zu einer Zeit, als das Internet noch in seinen Anfängen steckte – nämlich 1996):
„The reported prevalences of FA/FI (questionnaire answers) were 12% to 19%, whereas the confirmed prevalences varied from 0.8% to 2.4%. For additive intolerance the prevalence varied between 0.01 to 0.23%. The consequences of mistaken perception of FA/FI, which can have a major social impact in financial and health terms, require an information campaign for doctors, lay and media in connection with these problems” (31).
Man lasse sich das auf der Zunge zergehen: Laut Befragung berichteten 12-19 % darüber an irgendeiner Form von Nahrungsmittelunverträglichkeit zu leiden. „Hey, das deckt sich ja so ungefähr mit der ersten Studie, richtig?“ Joa, das Problem liegt nur darin, dass die anschließende Überprüfung der Intoleranzen mit einschlägigen Testverfahren zu dem Ergebnis kam, dass in Wirklichkeit nur 0,8 – 2,4 % der Befragten betroffen waren. Und diese Zahl verringerte sich noch weiter, als man die vermeintlichen Unverträglichkeiten kummulierte (auf 0,01 – 0.23 %; d.h. das die Zahl derer, die an mehr als einer NI litten, war noch geringer). Cool story bro.
Natürlich kann man jetzt in den Raum werfen, dass die Tests vielleicht nicht ausgereift waren (und sind) oder dass falsche Diagnosen gestellt wurden (und werden), aber der Sachverhalt hilft dabei, den Blick fürs Wesentliche zu schärfen und die vermeintliche Gefahr realistisch einzuschätzen. Immerhin gehen Leuten wie Kiefer davon aus, dass die Prevalenz einer Glutenintoleranz bei mehr als 50 % liegt. Harter Tobak (seine zitierte Studie dagegen, siehe (32), liest sich dagegen nicht ganz so hart, wenn man herausfindet, dass sie auf n=15 basiert. Aber vielleicht hat er auch einfach nur den falschen Link eingefügt? ;) )
Geht man von einer fehlenden Adaption des menschlichen Stoffwechsels im Bezug auf Getreide aus (wie es die Paleo-Fraktion z.B. annimmt), könnte in Sachen Getreide die Zahl der Betroffenen – über einen längeren Zeitraum gesehen – durchaus höher liegen, als bei anderen Unverträglichkeiten. Ein gutes Diskussionspaper zu dem Thema findet ihr hier (33).
Dies führt uns schließlich zur zweiten, wichtigen Frage – nämlich die des „Warum und weshalb?“ Die Antwort ist trivial, wenn man eine evolutorischen Perspektive einnimmt: Überleben. Ja, wie jetzt, überleben? Aber es schadet dem Menschen doch…? Ja, das tut es – und das soll es. Im Idealfall würde es sogar tödlich sein. Wenn ich nämlich vom Überleben spreche, dann meine ich nicht das Überleben des Menschen, sondern das Überleben der Pflanze:
“Nature engineers, within all species, a set of defenses against predation, though not all are as obvious as the thorns on a rose or the horns on a rhinoceros. Plants do not have the cell-mediated immunity of higher life forms, like ants, nor do they have the antibody driven, secondary immune systems of vertebrates with jaws. They must rely on a much simpler, innate immunity. It is for this reason that seeds of the grass family, e.g. rice, wheat, spelt, rye, have exceptionally high levels of defensive glycoproteins known as lectins.” – Opening Pandora’s Bread Box
Raubtiere haben Krallen und spitze Reiszähne um sich zu schützen. Andere Tiere haushalten mit Giften (Schlangen & Skorpione), Panzern (Chitin bei Insekten) und Stacheln (Igel) oder mit stinkenden (Stinktiere) oder heissen Sekreten (Bombardierkäfer). Einige Pflanzen haben physische Barrieren, wie z.B. Dornen und Nadeln, ausgebildet um sich vor Fressfeinden zu schützen. Und Getreide? Nun – das arbeitet etwas subtiler, nämlich mit Lektinen wie dem Gliadin.
Artikelinhalte
Glutenintoleranz: Lektine & Gliadin. Nahrungsgift?
Lektine & Nahrungsgifte – von Belang?
Pro-Tip: Pflanzen haben auch Gefühle und wollen nicht gefressen werden.
Wir haben es hier mit einem allgemeingültigen Leitmotiv zu tun, wenn es um Nahrung und Evolution geht; nichts auf der Welt entwickelt sich aus dem Grund, um im Magen eines Anderen zu landen. Um das eigene Überleben zu sichern benötigen Pflanzen und Menschen ein ähnliches Set an Nährstoffen; nüchtern betrachtet, stehlen wir das ihre durch unseren Konsum. Kein Wunder also, dass Pflanzen ein ganzes Verteidigungsaresenal aufbieten, um ihr Leben zu schützen und um nicht gegessen zu werden.
Einige der erfolgreichen Pflanzen haben es zu Wege gebracht eine physische (Disteln) oder chemische (Schierling) Verteidigung aufzubauen, die sie zu großen Teilen vor potenziellen Fressfeinden schützen. (mit Ausnahme einiger effizient angepasster oder einfach nur unglaublich dummer Räuber).
Und es gibt auch einige Pflanzen die darin unglaublich schlecht sind. Der Brokkoli stellt zum Beispiel sogenannte Senfölglycoside („glucoinsolates“) her, die einen bitteren Geschmack zur Folge haben (welcher uns aber offensichtlich nicht davon abhält, den Brokkoli zu essen). Kakao dagegen entwickelt ein potentes Insektizid, welches wenig später als Stimulanz identifiziert werden sollte und welches heutzutage zu der beliebtsten Droge der Welt zählt – natürlich reden wir hier von Koffein; der einzige Grund, weshalb es Koffein überhaupt gibt, liegt in seiner Wirkung als Insektizid! True story.)
Andere Bestandteile die weiter unten diskutiert werden, sind auf irgendeine Art und Weise halbgar und nicht konsequent genug. Sie werden euch nicht innerhalb kurzer Zeit töten (Schierling), aber so ganz harmlos sind sie dann auch wieder nicht. Die Dinge, von denen ich hier rede sind u.a. Gliadin (ein sog. Reserveprotein des Weizens) und Lektin („Phytohaemagglutinin“ – bei Hülsenfrüchten auch als Phasin bekannt, kurz: PHA).
Lektine (Glykoproteine)
Lektine sind – per definitionem – Proteine die sich mit Zucker verbinden und die in höchstem Maße auf die Zuckerarten spezialisiert sind, bei denen sie dies tun. Mit dieser (wahren) Definition (der Lektine) will ich eigentlich aussagen, dass es nicht per se als etwas Schlechtes gesehen werden kann. Die Medien suchen sich of the kleineren negativen Bestandteile heraus, die in dieser Kategorie einzuordnen sind und verschaffen der gesamten Lektin-Gemeinschaft einen schlechten Ruf.
Gluten
Ein Gluten („Klebereiweiß“) ist zu einem gewissen Teil ein Lektin, woraus sich ergibt: bei „Gluten“ handelt es sich nicht um einen einzigen Bestandteil, sondern eher um ein Wort, welches die Verbindung zweier Untereinheiten beschreibt. Und diese „Gluten-Einheiten“ lösen sich natürlicherweise nicht im Wasser auf.
Doch was sind denn nun die zwei ominösen Untereinheiten? Ganz einfach: der erste Teil nennt sich Glutelin (das Prominenteste davon ist das Glutenin aus der Triticum-Familie; unlöslich), der zweite Teil heisst Prolamin (wovon das Prominenteste das sogenannte Gliadin ist; es ist löslich und kommt in den Formen α, ϒ, and ω vor). Am besten merkt ihr euch das Gliadin, den das ist es eigentlich, worauf es am meisten ankommt.
Take-Away
Gluten bestehen aus zwei Untereinheiten; bei dem Wort Gluten handelt es sich daher um eine Klassifikation – kein einzelnes Bestandteil. Simpel: Gluten = (Gliadin + Glutenin).
Gluten finden sich im sogenannten Endosperm des Getreides, dem Nährgewebe welches den Keimling umgibt. Folglich existiert es in beidem: Weißmehl- und Vollkornprodukten. Durch den Verarbeitungsprozess kann man es heutzutage zum größten Teil entfernen (z.B. durch die Verwendung von Fettsäurebasen oder Salzlösungen, da die Gluten fettlöslich sind). Oftmals wird jedoch auf die billigste Variante, kaltes Wasser, zurückgegriffen, welches jedoch den Glutenlevel nicht so sehr zu tangieren scheint (1).
Typischerweise finden sich Gluten daher in Weizen, Gerste, Roggen, und Malz. Hafer ist dagegen überwiegend glutenfrei, doch dafür weisen diese ein anderes Allergen auf. Statt Gluten enthält der Hafer nämlich üblicherweise (das weitaus ungefährlichere) Avenin, welches eine ähnliche technologische Funktion wie die Gluten einnimmt (jedoch nicht für derartige Verdauungsprobleme zu sorgen scheint, wie sein Pendant – außer in sehr empfindlichen Individuen) (2)(25)(27).
„[..] it appears that oats have no harmful effect on celiac disease. Therefore, oats can be safely included in a gluten-free diet.” 25
Auch Reis enthält kleine Mengen an Gluten (3)(4).
Gliadin
Im Bezug auf den Wirkungsmechanismus der Gluten sieht es ganz danach aus, als könnte man die Ungemach auf die Untereinheit Prolamin zurückführen (wovon das Gliadin in diesem Augenblick den wichtigsten Part einnimmt). Gliadin ist ein Lektin und wenn wir uns die genaue Definition der Lektine wieder ins Gedächtnis holen, dann kommen wir zu dem Ergebnis, dass es sich hierbei um einen Proteinbestandteil handelt, der eine starke Affinität für eine bestimmte Zuckerart aufweißt (was wiederum bedeutet, dass es nach einem Zuckermolekül ausschau hält, an den es sich binden kann). Der Marker bzw. die Art von Zucker auf die Gliadin am besten reagiert, nennt sich N-Acetyl Glucosamin (GlcNAc) bzw „chitin-binding lectin.“
Spezifisch ausgedrückt: Gliadin verfügt über 12 Andockstellen, mit deren Hilfe das Gliadin-Molekül sich an ein N-Acetyl Glucosamin (oder eine andere Zuckerart) anheften kann. Es handelt sich also nicht um ein 1:1 Schädigungsverhältnis. Und das ist auch der Grund, weshalb viele Experten eine Hypothese darüber aufgestellt haben, dass Lektine im menschlichen Körper zu einer sogenannten Agglutination („Verklumpung“) beitragen können (dies passiert durch die Verwendung mehrerer dieser Andockstellen, um viele Zellen anzuziehen und eine zelluläre Verklumpung hervorzurufen).
(Vielleicht sollte ich an dieser Stelle noch erwähnen, dass sich dieser Abschnitt mit der wissenschaftlichen Definition von „Zucker“ behilft – wir reden hier also nicht nur von normalem Haushaltszucker, sondern nutzen eher die praktische Definition, welche u.a. auch Saccharose, Glukose, Fruktose, Maltose, Laktose und Galaktose umfasst)
Gliadins dunkle Machenschaften im menschlichen Organismus lassen sich folglich derart aufsummieren:
- In unserem Darm befindet sich ein Enzym, welches den Namen tissue Transglutaminase (tTG) trägt und es enthält den oben erwähnten Zucker-Marker. Die Aufgabe von tTG besteht darin einige Aminosäuren miteinander zu verbinden und damit widerstandsfähiges Gewebe im Körper aufzubauen (klassisches Beispiel: Kollagen oder die Wandzellen in der Mukosa (Schleimhaut)). Gliadin und tTG reagieren wegen dem Zucker-Marker, der sich auf der Außenseite des tTG-Enzyms befindet und bilden somit eine Art von Komplex („De-Aminiertes Gliadin“), welcher verhindert, dass tTG seiner üblichen Tätigkeit nachgeht. Das Ergebnis? Eine Auto-Immunreaktion im Körper. [5] (Eine unbekannte Substanz von nicht zu unterschätzender Größe im Organismus heisst automatisch, dass das Immunsystem des Körpers angeschmissen und aktiv wird, um dem Störenfried den Garaus zu machen.)
- Einige der Mukosa-Zellen im Dünndarm verfügen ebenfalls über einen solchen Zucker-Marker und auch hier kann das Gliadin andocken und so Schäden hervorrufen.
- Ist ein bestimmter Schwellenwert der Schädigung an der Darmwand erreicht, können diese Komplexe (die vormals zu groß waren, um den Darm zu verlassen) in die systemische Zirkulation eintreten. Gliadin wirkt pro-entzündlich und die Präsenz innerhalb des Zirkulationssystems wird u.a. als Grund für Gelenkschmerzen bei Personen verantwortlich gemacht, die empfindlich auf Weizenkonsum reagieren (grain sensitive Artrithis). Das hängt damit zusammen dass der Zucker-Marker, N-Acetyl Glucosamin,recht aktiv ist und in einer Großen Zahl bei den Chondrozyten (Zellen, die Gewebe miteinander verbinden) vorkommt. [6][7]
Jetzt haben wir den Salat: Gliadin und tTG haben einen Komplex gebildet („De-Aminiertes Gliadin Peptid“); der Fremdling reagiert mit der Antigen-Zelle (Zellen der Mukosa) und ruft das körpereigene Immunsystem (gliadin-specific T cells) auf den Plan, um dem Eindringling Paroli zu bieten. Folge: Eine Entzündung bzw. Auto-Immunreaktion, welche die Dünndarmzellen in Beschlag nimmt. Quelle: Zhu/Tramper (2008) (24).
Dieser Prozess, also die Formierung eines Komplexes, die Initiierung der Autoimmunreaktion und die Diffundierung durch die Darmwände, stellt die drei Gründe dar, weshalb manche Menschen mit Irritationen bei glutenhaltigen Lebensmitteln reagieren (heruntergebrochen auf die Anwesendheit von Gliadin). Eine wichtige Anmerkung, die ich in diesem Fall noch in den Raum schmeissen muss: Trotz der auffälligen Symptome, die man in manchen Individuen beobachten kann (chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Zöliakie), muss es nicht dazu kommen, dass das Gliadin eine solche Krankheit auslöst. Es ist vielmehr so, dass derartige Krankheiten asymptotisch (z.T. genetisch bedingt) in Individuen auftreten können, wie es zum Beispiel in dieser Untersuchung diskutiert wird (8)(26).
Vergleich – Darmtrakt eines Gesunden (links) und eines an Glutenunverträglichkeit leidenden Patienten (rechts). Während die Gliadin-Komplexe im linken Schaubild nahezu restlos verdaut werden können, erreichen intakte Gliadin-Peptide im rechten Bild die Lamina Propria (Schleimhäute der Mukosa) und verbinden sich mit der tissue Transglutaminse (tTG). Es folgt eine Auto-Immunreaktion (Initiierung der IgA Antikörper). Größere Mengen intakter Gliadin-Komplexe setzen lokale Adaptionsprozesse in Gang; Trigger von Toleranz zu Entzündung. Quelle: Meresse et al. (2009) (23)
Weizenkonsum trotz Lektingehalt? Gibt es Workarounds?
Es gibt eine Methode mit der man Gliadin und andere schädliche Lektine daran hindern kann, aktiv zu werden. Competitive Inhibition – wechselseitige Hemmung.
Hierfür müssen wir uns vergegenwärtigen, dass die Rolle der Lektine darin liegt „an höchst spezifizierte Zucker-Substrate/Hälften anzudocken.“ Und in den meisten Fällen sind die Zellen bzw. Nährstoffe an gängige Zuckerarten, wie z.B. Mannose/Glukose, N-Acetyl Glucosamine oder N-Acetylgalaktosamine gebunden. Weiter oben haben wir bereits darüber diskutiert, in welcher Form das Gliadin auf N-Acetlyglukosamin einwirkt – ein ähnlicher Sachverhalt ergibt sich bei den anderen Substanzen.
(Die Verbindung von Zellen mit Zucker stellt eine überaus wichtige Funktion in unserem Körper dar, da es u.a. eine der Möglichkeiten ist, mit der unsere Zellen (durch eine beabsichtigte Lektinproduktion bzw. andere Signalmoleküle, die keinen schädlichen Effekt entfalten) miteinander kommunzieren können.
Die Lektin-Moleküle heften sich also an eine Zuckerhälfte, aber wenn es nun zwei Komponenten mit dem gleichen Zuckermolekül gibt, dann docken die Lektine an jene an, welche elektronegativer geladen ist (da es weniger Widerstand bietet). Das sind üblicherweise die kleineren Komponenten, auch wenn einige Proteine wie für einander gemacht zu sein scheinen und eine hohe Affinität füreinander aufweisen.
In der Theorie heisst das also, dass die Aufnahme einer Komponente mit einer höheren Affinität für die Lektinbindung als mit dem Enzym tissue Transglutaminase (tTG) bzw. der anderen Darmzellen, die Reaktion mit derselben verhindert werden sollte. Die Lektine können damit ihre negative Wirkkraft in diesen Molekülen nicht entfalten und damit auch nicht in die systemische Zirkulation gelangen. Und genau dies wurde in Patienten mit Zöliakie auch beobachtet (10).
„In all cases, lectin binding was specifically inhibited by the lectins’ competitive saccharides.” [10]
Die Andockstellen von Gliadin scheinen in höchstem Maße auf Zucker Marker wie N-Acetyl Glucosamin und Mannose spezialisiert zu sein (11).
Dies wurde auch in einer anderen Studie festgestellt, in der N-Acetyl Glucosamin, Mannose und Triacetylchiotriose auf direktem Wege die Aktivität von Gliadin im Bezug auf die Darmzellen behindert haben; mehr noch: es war möglich bereits vorhandene Komplexe zurückzubilden, die bereits zu Studienbeginn vorlagen. Dies impliziert eine sehr starke Affinität jener Substrate innerhalb der Zellen. Leider muss man aber auch zugeben, dass es sich hierbei nur um eine in vitro-Studie handelt (vitro-Studien werden in einem Labor durchgeführt – quasi im Reagenzglas; vivo-Studien dagegen werden direkt im Menschen absolviert). Dieser reversible Effekt wurde aber schon im Ratten-Versuchsmodell repliziert, insofern muss man hier Eingeständnisse in Sachen „in vitro“ machen (12)(13).
Natürlich gibt es eine Vielzahl von Studien, die sich mit dem Makro-Effekt von N-Acetyl Glucosamin und dessen Wirkung im Menschen beschäftigen (dazu kommen wir in der nachfolgenden Sektion). Insofern handelt es sich bei den zwei Studien mit der akuten Handlung Annahmen, die zur Gänze auf in vitro-Studien/Rattenmodellen basieren.
N-Acetyl Glucosamin Supplementation für die Darmgesundheit?
Bei N-Acetlyglukosamin handelt es sich um eine acetylierte Version des populären Supplements Glucosamin, welches vor allem für die Gelenkgesundheit eingesetzt wird. Dabei handelt es sich um ein sehr kleines Molekül mit einer hohen Affinität für Gliadin. Das heisst: Wenn sie in Koexistenz miteinander treten, dann verbinden sie sich. Wenn aber ein anderes Molekül mit einer noch höheren Bindungsaffinität für das Lektin-Molekül daher kommt, muss es uns nicht die Bohne interessieren, denn die Darmzellen und Enzyme werden davon nicht die Spur geschädigt.
Erinnert ihr euch noch daran, wie ich weiter oben gesagt habe, dass Gliadin über 12 N-Acetyl Glucosamin Andockstellen verfügt? Richtig: Wir brauchen also 12 N-Acetyl Glukosamin-Moleküle um ein Gliadin-Molekül daran zu hindern, in irgendeiner Form auf die Darmzellen oder tTG einzuwirken – competitive inhibition, eben.
4 Seiten – für den Fall der Fälle, dass hier irgendjemand nun denkt, ich würde mir die Zahlen aus den Fingern saugen.
Eine Studie hat herausgefunden, dass der Gliadingehalt in Lebensmitteln in höchstem Ausmaß variabel ist und üblicherweise zwischen 1.2 – 3.3 % – in Trockenmasse – liegt. Trockenmasse ist das Gewicht, nachdem man der Wassergehalt herausgerechnet wurde. Damit ist der Gliadinanteil am höchsten in Hartweizen und Weizenkorn. Weitaus niedriger sind die Werte bei Gerste und Hafer. Zusätzlich stellte man in der Studie fest, dass eine geringe Menge von Prolaminen in Reis zu finden ist. Die molekulare Masse von Gliadin schwankt ebenfalls in nicht zu unterschätzendem Ausmaße (und das erwähne ich aufgrund der nachfolgenden Kalkulationen) (4)(14)(15).
(Die Studien, die die Reichweite des Prolamin-Gehaltes (aka Gliadin) zeigen, können hier eingesehen werden. Es handelt sich um eine Serie von Artikeln, die ich mit Hilfe meiner Sekundärquelle beschafft habe).
Ich habe festgestellt, dass ein Großteil der Mathematikarbeit über das Verständnis der meisten Leser hinaus geht, deswegen gebe ich euch nur eine Zusammenfassung. Nehmen wir also an, dass jemand 50 Gramm Weizenbrot isst – derjenige bräuchte dann 1 Gramm N-Acetylglucosamin um eine wechselseitige Hemmung (competitive inhibition) des Gliadin-Gehaltes zu erreichen.
Sämtliche Kalkulationen wurden in der Annahme von Weizenprodukten mit dem höchst möglichen Gliadingehalt durchgeführt, also decken die N-Acetyl Glucosamin-Empfehlungen alles ab, was unter diese Grenze fällt. Damit sollte die Dosierung einen Schutz vor all den Lebensmitteln liefern, die Lektine enthalten und die vornehmlich an N-Acetlyglukosamin-Moleküle binden (in der üblichen Dosierung, wie sie ein normaler Mensch konsumieren möge). Die Berechnung erfolgte auf Basis von 50 Gramm, aber üblicherweise dürfte eine ganze Menge an N-Acetyl Glucosamin nach einer 50 Gramm-Ladung Weizen noch übrig bleiben.
Nachdem wir dessen also Gewahr sind, können wir konstatieren, dass die Einnahmeempfehlung von N-Acetyl Glucosamin ausgesprochen niedrig ist. Niedrig genug, dass – nachdem eine 1-Gramm-Dosis konsumiert wurde – der N-Acetyl Glucosamin-Rest nicht signifikant hoch genug ist um irgendwelche Schädigungen an der Bauchspeicheldrüse hervorzurufen (da sich in letzter Zeit jeder Sorgen darüber zu machen scheint – einen Abstract findet ihr hier: (16). Und die darin verwendete Dosis is um ein Vielfaches höher, als es dieses eine popelige Gramm ist, welches vom Verdauungstrakt in Anspruch genommen wird). N-Acetyl Glucosamin kann wahlweise in Glucosamin umgewandelt werden, nachdem es im Darm vom Körper aufgenommen wurde (siehe obige Studie). Die Aufnahme von N-Acetyl Glucosamin im Darm ist jedoch sehr gering, so dass man hier das vermeintliche Gefahrenpotenzial noch weiter reduzieren kann.
Und hier noch ein kleiner Zusatz: das Hauptlektin, welches sich überwiegend in Hülsenfrüchten finden lässt, Phytohaemagglutinin (PHA), verfügt über eine spezielle Affinität zur Bindung an Mannose bzw. N-Acetyl Glucosamin-Zuckermoleküle, ähnlich wie Gliadin. Die Ergänzung mit N-Acetyl Glucosamin sollte also auch mit Hülsenfrüchten wunderbar funktionieren. Auch wenn – zugegebenermaßen – mehr PHA in 50g Hülsenfrüchten (insbesondere Kidney-Bohnen) vorkommen (wenn mit dem Gliadin-Gehalt von 50g Weizen vergleichen), so gibt es doch weniger Andockstellen, die es zu berücksichtigen gilt.
1 Gramm N-Acetyl Glucosamin sollte also auch in einem solchen Szenario problemlos funktionieren, unabhängig vom „Bohnen-Load.“
Schlussbemerkung
Ich habe an vielfacher Stelle Mannose in den Raum geworfen und es sollte – rein theoretisch – genauso gut funktionieren wie N-Acetyl Glucosamin. Letzteres ist einfach nur populärer und es wurde in den vergangenen Jahren bevorzugt eingesetzt, um das sich im Darm befindliche Lektin undschädlich zu machen; deswegen geht meine Präferenz ebenfalls ganz klar in Richtung NAG).
Wann sollte man von NAG Abstand nehmen?
Bei NAG handelt es sich um ein im menschlichen Organismus natürlich vorkommendes Enzym, dennoch gilt es einige Dinge zu beachten, wenn man eine Supplementation in Erwägung zieht. NAG hilft nicht nur bei der Reperatur von Mukosa-Zellen und damit dem Verdauungstrakt und dem Immunsystem. Darüber hinaus unterstützt NAG die Insulinausschüttung und die Absorption von Chlolesterin. Neben seiner schmerzlindernden Wirkung und der wachstumshemmenden Eigenschaft bei Tumoren, hilft das Monosaccharid im Kampf gegen Erkältungs- und Herpesviren (17). Darüberhinaus haben sich orale Gaben von NAG in einigen Feldversuchen als lindernd im Bezug auf Osteoarthritis (Kniegelenkschmerzen) gezeigt (20)(21).
Dennoch, sollte man umsichtig bei der Supplementation handeln. Wenn ihr andere Medikamente nehmt, dann klärt die Ergänzung mit NAG vorher bei einem Arzt ab. Bekannte Wechselwirkungen umfassen blutgerinnungshemmende Medikamente (Warfarin), sowie Pharmaka zur Krebsbehandlung (Chemotherapie), Diabetes (wg. der potenziellen Insulinreaktion), bei Asthma-Erkrankungen (19) und im geringeren Umfang auch diverse Schmerzmittel (z.B. Paracetamol).
Selbstverständlich gilt alles oben erwähnte auch, wenn ihr augenblicklich schwanger sein solltet (meine Glückwünsche!). Nahrungsergänzungsmittel sind keine Smarties (18)!
Alternativen zur NAG-Supplementation
Da ich weiß, dass die Leute in dieser Richtung ticken, habe ich die folgende Sektion eingebaut.
Kleine Erinnerung: Weiter oben habe ich bereits eine Studie zitiert, die in gesunden Individuen einige der Symptome festgestellt hat. Daher nochmal (8).
Davon ausgehend kann man annehmen das Gliadin auch in gesunden Menschen Auswirkungen zeigt. Da es ein noch relativ junges Studienfeld ist, wissen wir auch nichts Näheres über die tatsächlichen Schäden, die die Lektine verursachen könnten. Alles was uns daher bleibt sind die sichtbaren Marker besagter Lektine, die eben gesunde Personen zu beeinflussen scheinen.
Berücksichtigt man diesen Sachverhalt, würde ich die Empfehlung der NAG-Supplementation aussprechen, wann immer ihr vorhabt lektin-haltige Lebensmittel – ohne Sorge –zu konsumieren. Wenn ihr aber keine Lust habt euch extra deswegen NAG anzuschaffen, dann solltet ihr a.) entweder Lebensmittel mit Lektinen meiden oder b.) euch über die negativen Begleiterscheinungen eines Lektinkonsums auf euren Körper genauestens im Klaren sein.
Wir wissen dass Gliadin/Phytohaemagglutinin einen negativen Effekt entfaltet und wir wissen auch, dass dies die Gesundheit vieler Leute beeinflusst. Wir wissen aber nicht, ob diese negativen Effekte auch einen signifkanten Unterschied bei der Verdauung gesunder Menschen über einen längeren Zeitraum hin ausmachen. Anekdotischerweise könnte man jetzt sagen: Ja, das tun sie, aber wenn man nach der Wissenschaft geht, dann bleibt uns dieser Beweis noch schuldig.
Das heisst also: wir wissen, dass sie bösartig sind, aber wir wissen nicht, ob sie bösartig genug sind und ob unser Körper nicht doch in der Lage ist, sie im Schach zu halten, sich selbst zu reparieren und so einen gewissen Schaden über Zeit zu verhindern (einige leichtere Formen von Giften scheinen über einen längeren Zeitraum keinen nennenswerten Einfluss auf den Körper zu zeigen, da wir in der Lage sind uns on the go zu regenerieren und davon zu erholen. Damit können wir den verursachten Schaden neutralisieren, ein Prozess, der als Hormesis bezeichnet wird).
Ihr könnt versuchen Beerenobst in euren Speiseplan zu schmuggeln, wenn ihr Lektine konsumiert (da diese üblicherweise einen höheren Mannosegehalt aufweisen, als alle üblichen Nahrungsmittel), jedoch gibt es hierfür keine wissenschaftlichen Studien, die diese These untestützen. Wir spekulieren hier also lediglich. Eine weitere (vielleicht bequemere) Möglichkeit besteht darin sich einfach D-Mannose-Pulver zu besorgen und zu supplementieren:
„D-mannose is also a common binding sugar for lectins. It is capable of binding with the lectins in grains and other foods and also microorganisms […].” (28)
Eine andere Möglichkeit besteht darin auf glutenfreie Produkte auszuweichen (was allerdings oft mit einem höheren Preis einhergeht). Eine Liste an Lebensmitteln die als glutenfrei bzw. unbedenklich gelten, findet ihr an dieser Stelle (inkl. einer Liste mit stark glutenhaltigen Sachen) und auf dieser Seite. Leider, so muss man sagen, reicht es oftmals nicht aus typische Glutenbomben zu meiden, da diese Substanz heutzutage dank ihrer technologisch hervorragend Eigenschaften (u.a. als Stabilisator) nahezu überall hinzugemischt wird (z.B. in löslichem Kaffee, Dörrobst, gerösteten Nüssen, Dosengemüse usw.)
(Andere potenziell giftige Bestandteile werden zur gegebenen Zeit noch weiterdiskutiert; abhängig davon, wieviel Gifte sich noch finden lassen), hierunter fallen z.B. Avena Sativa, Kumarin, Acrylamid, Solanin, Jacalin, Erdnuss agglutinin und Concavalin A – neben anderen versteht sich; und glaubt mir: wo die herkommen, gibt es noch eine ganze Menge mehr!)
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Bildquelle Titelbild: Wikipedia.org ; GNU Free Lizenz
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Danke für den tollen Artikel!
Ich bin begeistert von deinem Wissen und deiner Schreibweise, du machst das Thema Biochemie echt verständlich ;)
Hast du vielleicht nen Buchtipp, um in die ganze Thematik einzusteigen? Ich studiere Gesundheitsmanagement, aber die Studienunterlagen reichen vorne und hinten nicht, um das zu Lernen, was ich wissen will :D
Zu dem Thema glutenfreie Produkte: Auf den Zug springen ja auch viele Lebensmittelhersteller auf und bieten Brötchen, Nudeln etc. ohne Gluten an. Meistens ist doch da dann aber einfach Maismehl anstatt Weizenmehl drin. Eine gute Alternative ist das dann doch auch nicht, oder?