Lange, schlanke Muskeln: Oh, diese Ironie …

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Lange, schlanke Muskeln: Oh, diese Ironie …

Von Bret Contreras | Benötigte Lesezeit: 7 Minuten |


All die Jahre habe ich gehört, dass solche Trainingsmethoden wie Yoga, Pilates (und neuerdings auch die sogenannte „Bar Method“) für „lange, schlanke Muskeln“ sorgt. Auch wenn ich mir voll und ganz darüber im Klaren bin, dass die meisten dieser Behauptungen lediglich Marketing sind, welches sich an naive Frauen richtet. Dennoch frage ich mich allen Ernstes, wie viele von diesen involvierten Verfechtern tatsächlich ihren eigenen Behauptungen glauben schenken.

Schauen wir uns also mal die Fakten an.

Lange, schlanke Muskeln: Oh, diese Ironie …

Punkt #1: Muskeln haben einen fixierten Ursprung und einen Ansatzpunkt

Du kannst nicht verändern, wo die Muskulatur beginnt oder endet – diese Dinge sind anatomisch prädisponiert. Wenn du dir einen schlimmen Knochenbruch zuziehst, dann könnte es eventuell sein, dass die Muskulatur nach abgeschlossener Verheilung kürzer ausfällt, als vorher und ich erinnere mich an Geschichten aus dem russischen Sport, wo Ärzte bei Experimental-Athleten chirurgische Brüche durchgeführt und Muskeln wieder bei verschiedenen Längen angebracht haben, um zu beobachten, inwiefern dies ihre Athletik beeinflusste.

Arme mit längerem Muskelmoment besitzen einen besseren Hebel, können mehr Drehmoment entfalten und sind besser geeignet für Kraft, während Arme mit einem kürzeren Muskelmoment sich rapide verkürzen können und besser für Geschwindigkeit geeignet sind – es gibt hier also ganz klare Trade-Offs (1).

Doch das Herumpfuschen mit Ansatzpunkten kann die Koordination negativ beeinträchtigen, was jedoch für die sportliche Leistungsfähigkeit überaus wichtig ist. Wenn ich mich also richtig erinnere, hat man Experimente damit relativ zügig sein lassen.

Lange,schlanke Muskeln: Muskeln haben einen fixierten Ursprung und einen Ansatzpunkt

Abseits eines chirurgischen Eingriffs, gibt es nicht viel, was man an der Muskulatur (mit Ausnahme des Querschnitts) verändern kann. Mutter Natur hat sich schon etwas dabei gedacht, wenn ein Muskel genau dort seinen Ansatzpunkt hat und nicht woanders. (Bildquelle: Fotolia / adimas)

Punkt #2: Muskeln stabilisieren und schützen die Gelenke

Gehen wir mal theoretisch davon aus, dass du einen Muskel tatsächlich verlängern könntest – was würde passieren? Bestimmte Muskel würden irgendwann zu lang werden, was wiederum zu einer schnelleren Degeneration einige Gelenke beitragen würde. Wenn es also um die muskuloskelettale Gesundheit geht, willst du extrem verlängerte Muskel tunlichst vermeiden (insbesondere, wenn damit auch eine fehlende Motorkontrolle einhergeht).

Weiterhin entsteht zusätzlicher Stress für die Bänder, Scheiben, Knorpel und Gelenkkapseln.

Punkt #3: Muskeln liefern Kraft für die Entstehung eines Drehmoments während athletischer Bewegungen

Während einer Bewegung willst du nicht herumeiern. Du willst, dass deine Muskeln die richtige Länge für die jeweilige Aktivität haben, die zur Diskussion steht. Es gibt eine optimale Länge für die Muskeln, bei denen die Kraftproduktion maximiert wird. Wenn ein Muskel zu lang ausfällt, dann wird er nicht den optimalen Grad an passiv elastischer Kraft liefern (und Titin, welches überaus wichtig ist um die muskuläre Kraft bei längerer Dauer zu generieren, wird nicht aktiv (2)).

Ein Athlet, der Kreuzheben absolviert, will nicht seine Fußknöchel aus einer stehenden Position umarmen können, da dies implizieren würde, dass die hintere Oberschenkelmuskulatur nicht in der Lage wäre eine starke Spannung aufzubauen (wie ein Gummiband, welches gedehnt wird), sobald man sich für das Kreuzheben in den Stand bringt.

Klar, eine Ballerina würde von einer größeren Flexibilität profitieren, doch es wird immer noch Muskulatur benötigt, um die Gelenke zu stabilisieren, um Verletzungen vorzubeugen.

Punkt #4: Die Länge eines Muskels kann in der Tat durch Training & Immobilisation beeinflusst werden

Es ist tatsächlich möglich Muskulatur zu verlängern oder zu verkürzen. Bettruhe und Immobilisation führt zu einer Verkürzung der Muskulatur. Widerstandstraining (insbesondere Übungen, welche die aktive Muskulatur ausreichend dehnen sowie exzentrische Bewegungen) und explosives Training führt zu einer Verlängerung der Muskulatur. Interessanter Weise führen Bewegungen, die bei kurzer Muskellänge nur eine konzentrische Phase beinhalten zu einer Muskelverkürzung.

All diese Effekte wurden bereits in Ratten demonstriert (3)(4)(5), allerdings fehlen noch entsprechende Humannachweise.

Clevere Kraft-Coaches und Physiotherapeuten nutzen dieses Wissen, um die Muskelfunktion bei verschiedenen Längen zu verbessern. Ein Beispiel: Um die hintere Oberschenkelmuskulatur während des Sprintens vor Verletzungen zu schützen, müssen diese bei größerer Länge stärker sein – daher setzt man Rumänisches Kreuzheben, den Nordic Ham Curl sowie Beinbeuger ein, um dieses Ziel zu erreichen. Burghelli & Cronin (2007) haben dieses Phänomen vor mehreren Jahren bereits gereviewt und seit dieser Zeit gibt es weitere, neuere Forschungsarbeiten (6).

Lange, schlanke Muskeln: Die Länge eines Muskels kann in der Tat durch Training & Immobilisation beeinflusst werden

Das Training über den vollständigen Bewegungsradius (ROM) ist in der Lage die Länge der Muskulatur zu erhöhen – dies konnte durch wissenschaftliche Arbeiten bestätigen werden, allerdings gibt es auch hier ein Limit, welches relativ schnell erreicht wird. (Bildquelle: Fotolia / Peter Atkins)

Aber wie kann man einen Muskel verlängern?

Dies hängt von der jeweiligen Muskulatur ab (primär der Länge), dem Trainingsstatus des betroffenen Muskels und der Menge an Zeit, die man hineinsteckt. Ein längerer Muskel wäre bei Untrainierten in der Lage sich um mehrere Zentimeter zu verlängern, sofern ein entsprechendes Training genutzt wird. Einige Arbeiten zeigen, dass die Veränderung der Länge bei Woche 5-6 eines fokussierten Trainings zum Erliegen kommt.

Die Frage lautet hierbei: Hat dies irgendwelche Auswirkungen auf die visuelle Ästhetik eines Menschen? Kannst du infolge eines Blicks auf die Physis eines Menschen sagen, ob sich seine Muskulatur verlängert hat? Ich glaube nicht.

Punkt #5: Dehnen verlängert nicht die Muskellänge

Wenn du deine Muskeln dehnst, dann erhöht sich ihre Flexibilität. Doch dies geschieht nicht etwa durch eine Verlängerung der Muskulatur, sondern durch eine Verringerung des Warnsignals vom Gehirn – das Hirn „löst die Bremse“ und erlaubt es dem Muskel stärker gedehnt zu werden.

Das Dehnen ist eine Strategie des Nervensystems, welches darauf abzielt die Flexibilität zu steigern. Es ist jedoch keine mechanische Strategie. Weppler & Magnusson haben dieses Phänomen vor einigen Jahren gereviewt und seit dieser Zeit gibt es weitere, neue Forschungsarbeiten (7).

Erfahre mehr über die Auswirkungen eines Dehnprogramms auf die Muskulatur in Menno Henselmans Artikel „Die Wissenschaft hinter dem Dehnen & Stretchen“.

Punkt #6: Schlanksein hat mehr mit Ernährung als mit Training zu tun, aber Intensität ist hierbei hilfreich

Grundlegend lässt sich sagen, dass jemand, der Yoga oder Pilates absolviert und dabei wie ein ein Rhinozerus futtert, übergewichtig wird und einen höheren Gehalt an intramuskulären Fett aufbaut (verglichen mit einer normalen Person), wohingegen jemand, der einen überwiegend sitzenden Lebensstil pflegt oder Kraftsport betreibt – sich aber vernünftig ernährt – weniger Fetteinlagerungen in der Muskulatur aufweisen wird (abermals verglichen mit einer normalen Person).

Intramuskuläres Fettgewebe wird primär durch die Ernährung und das Gewicht beeinflusst, als durch das Training (aber es kann dabei durchaus behilflich sein (8)).

Je intensiver das Training, desto höher fällt auch der Verlust von Körperfett aus (9). Aus diesem Grund kann hochintensives Training (z.B. explosive Sportarten oder Krafttraining) besser geeignet sein, um die Fettspeicher des Körpers zu reduzieren.

Lange, schlanke Muskeln: Schlanksein hat mehr mit Ernährung als mit Training zu tun, aber Intensität ist hierbei hilfreich

“Definiert wird in der Küche” – wabbeliges Fettgewebe kann nur durch ein chronisches Kaloriendefizit beseitigt werden, da hilft auch kein Training der Welt! Wenn sich über der Muskulatur eine Speckschicht ansammelt, dann wirst du stets eine weiche Optik haben. (Bildquelle: Fotolia / gearstd)

       

Abschließende Worte

Die Verwendung der Terminologie „lange, schlanke Muskeln“ zielt auf naive Anfänger und die Ängste vieler Frauen ab, denen man wiederholt gesagt hat, dass sie durch Krafttraining zu massig werden.

  • Muskeln können in ihrer Länge nicht drastisch verändert werden, jedoch ist Kraftsport effektiver, wenn es darum geht eine Verlängerung der Muskulatur herbeizuführen, als Dehnen und Stretchen. Okay, Yoga und Pilates kombinieren Dehnen mit kräftigenden Übungen. Bestimmte Positionen müssen für längere Zeit bei gestreckter Muskulatur eingehalten werden, doch vernünftiges Widerstandstraining (welches auch exzentrische Bewegungsabschnitte beinhaltet) führt die Gelenke durch ihren vollständigen Bewegungsradius.
  • Das Ziel, die Flexibilität primär durch Dehnen zu erhöhen, wird generell hinsichtlich körperlicher Leistungsfähigkeit überschätzt. Es ist besser, wenn man die notwendige Flexibilität durch dynamische Bewegungen erlangt und simultan die Motorkontrolle und Stabilität bei gestreckter Muskellänge verbessert.
  • Ein extremes Level an Flexibilität zu erlangen, ist nicht ganz unproblematisch und wird hinsichtlich gesundheitlicher Vorteile und Performance überschätzt.
  • Flexibilität, Kraft, Geschwindigkeit, Power, Agilität, Stamina und Körperkomposition sind alles wichtige Aspekte von physischer Fitness. Eine einzige Kategorie sollte nicht über mehrere Jahre überpriorisiert werden.
  • Schlankheit wird eher durch Ernährung, als durch Training erzielt. Belastungen bei höherer Intensität können jedoch zu stärkeren Verbesserungen in Sachen Körperzusammensetzung (Muskel- und Fettgehalt) beitragen, als Yoga und Pilates.
  • Yoga und Pilates sind wertvolle Arten des Trainings. Sie können die Muskelkraft und Körperflexibilität verbessern, die Atemmuskulatur stärken, die Herz-Kreislauf-Gesundheit optimieren, die Regeneration erhöhen und bei der Reduktion von Stress/Sorge/Depression und chronischen Schmerzen sowie einer Verbesserung der Schlafqualität behilflich sein – und damit die Lebensqualität positiv beeinflussen (10).
  • Gute Personal-Trainer, Kraft-Coaches und Physiotherapeuten borgen sich Methoden aus Yoga und Pilates, um ihren Klienten, Athleten und Patienten dabei zu helfen ihre Ziele effizient(er) zu erreichen.

Wenn Yoga und Pilates Praktizierende glauben, dass Übungen auf dem Kriterium zur Produktion langer, schlanker Muskeln basieren sollten, dann sollten sie eher Widerstandstraining mit freien Gewichten promoten, da diese Form des Trainings generell besser dazu geeignet ist die Muskellänge zu verändern und die Körperkomposition zu verbessern.

Quellen & Referenzen

(1) Lee, SSM. / Piazza, SJ. (2009): Built for speed: musculoskeletal structure and sprinting ability. In: J Exp Biol. URL: http://jeb.biologists.org/content/212/22/3700.long.

(2) Powers, K., et al. (2014): Titin force is enhanced in actively stretched skeletal muscle. J Exp Biol. URL: http://jeb.biologists.org/content/early/2014/08/20/jeb.105361.abstract.

(3) Lynn, R. / Morgan, DL. (1985): Decline running produces more sarcomeres in rat vastus intermedius muscle fibers than does incline running. In: J Appl Physiol. URL: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/7836150.

(4) Lynn, R. / Talbot, JA. / Morgan, DL. (1998): Differences in rat skeletal muscles after incline and decline running. In: J Appl Physiol. URL: https://www.physiology.org/doi/abs/10.1152/jappl.1998.85.1.98.

(5) Butterfield, TA. / Leonard, TR. / Herzog, W. (2005): Differential serial sarcomere number adaptations in knee extensor muscles of rats is contraction type dependent. In: J Appl Physiol. URL: https://www.physiology.org/doi/abs/10.1152/japplphysiol.00481.2005.

(6) Burghelli, M. / Cronin, J. (2007): Altering the length-tension relationship with eccentric exercise : implications for performance and injury. In: Sports Med. URL: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17722950.

(7) Weppler, CH. / Magnusson, SP. (2010): Increasing muscle extensibility: a matter of increasing length or modifying sensation? In: Phys Ther. URL: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/20075147.

(8) Addison, O., et al. (2014): Intermuscular Fat: A Review of the Consequences and Causes. In: Int J Endocrinol. URL: http://www.hindawi.com/journals/ije/2014/309570/.

(9) Irving, BA., et al. (2008): Effect of exercise training intensity on abdominal visceral fat and body composition. In: Med Sci Sports Exerc. URL: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2730190/pdf/nihms-111742.pdf.

(10) Woodyard, C. (2011): Exploring the therapeutic effects of yoga and its ability to increase quality of life. In: Int J Yoga. URL: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3193654/?report=classic.


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Bildquelle Titelbild: Fotolia / Gorodenkoff


Über

Bret Contreras (PhD, CSCS) wird vielfach als der führende Experte auf dem Gebiet Gesäßmuskeltrainings angesehen, was ihm unter anderem den Beinamen „The Glute Guy“ eingebracht hat. Auf seiner Seite BretContreras.com informiert der Personal Trainer seine Leser über effiziente Trainingsmethoden und Fitnesstraining.
Zusammen mit Chris Beardsley betreibt Bret darüber hinaus die Plattform Strength & Conditioning Research, die Abonnenten monatlich über neuste wissenschaftliche Erkenntnisse im Trainingsbereich informiert.
Bekannt ist Bret unter anderem auch durch seine regelmäßigen Beiträge in einschlägigen On- wie Offline-Magazinen, darunter Flex, Men’s Health, Muscle & Fitness, T-Nation.com, Bodybuilding.com und viele andere.

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