Von Damian N. Minichowski | Benötigte Lesezeit: 19 Minuten |
Story of your Life: Vielleicht hast du bereits bei der Eröffnung angefangen in diesem lokalen Studio zu trainieren oder vielleicht bist du einfach schon so lange dabei, dass du mittlerweile zum Inventar gehörst. Niemand kennt das Studio besser als du: Die Umkleide und der ewig gleiche Spind, der permanent zu klemmen scheint. Die Gym-Theke, die du schon so oft gesehen hast und bei der du dich besser auszukennen scheinst, als der Trainer-Azubi im dritten Lehrjahr. Der Eingangsbereich, der dir so vertraut vorkommt, wie die eigene Haustüre. Aber vor allem kennst du die Trainingsfläche: die schweren Hantelscheibe an den Halterungen, das Squat-Rack und die Kurzhanteln – alte Bekannte. Verdammt, du weißt vermutlich sogar wo im Studio die besten Lichtverhältnisse herrschen, wenn du im Spiegel die Früchte deiner Arbeit betrachtent willst. Du kennst Hans und Jörg (oder wie auch immer die „Stammkunden“ deines örtlichen Gyms heissen mögen) und begrüßt mittlerweile die halbe Studio-Delegation per Handschlag oder wirfst hier und da einen zotigen, ironischen Kommentar in die Runde, während sich einer am Eisen abrackert. Ganz klar: Du bist hier zu Hause. Und doch kannst du dir auf „ihn“ keinen Reim machen.
Er? Wer ist er? Der Typ ist irgendwann im Gym aufgetaucht. Ein untrainierter, aus der Form gekommener Kerl, der vermutlich den größten Teil des Tages auf seinem Hintern verbringt und die Tastatur auf der Arbeit quält. „Ein Krawattenträger,“ so denkst du, „niemand besonderes.“ Nachdem sich dieser Knilch also eingeschrieben hatte und seine ersten, wackligen Gehversuche (oder lieber: Stemmversuche) unter der Hantel absolviert hat, hast du dich erbarmt und ihn für kurz zur Seite genommen, um ihm ein paar gut gemeinte Ratschläge mit auf den Weg zu geben. Es stellte sich heraus, dass John – so der Name des Kameraden – sich relativ uneinsichtig zeigte und stattdessen meinte „er wisse, was er tue.“
Damit war die Sache für dich gegessen. „Dann eben nicht. Soll er seine eigenen Erfahrungen machen – er wird schon sehen, was er davon hat,“ dachtest du dir noch.
Das war nun 2 Monate her und seitdem hast du John beinahe jeden Tag, wo du im Studio warst, am Eisen gesehen und … leck mich fett: Der Büromensch schien nicht nur mit jedem Mal, den du ihn gesehen hast, 1 Kilo mehr Muskelmasse auf den Rippen zu haben, nein, denn er knallte sich mittlerweile auch die gleichen Gewichte auf die Stange, die du selbst als Arbeitsgewicht verwendest. Und das Schlimmste von alledem: die Technik, die Feinmotorik, diese Präzision – die Ausführung der Übungen ist wie aus dem verdammten Bilderbuch. Was zum Henker geht hier vor? „Der nimmt doch was…,“ mutmaßt du insgeheim. (genauso wie die Trainer im Übrigen)
Dies wäre vielleicht eine bequeme Antwort auf diese verrückte Geschichte, doch selbst damit wäre der gewaltige Fortschritt in so kurzer Zeit nicht zu erklären. Nein, mein lieber Freund – John nimmt nichts, aber er inhaliert das Eisen, als wäre es ihm schon in die Wiege gelegt worden. Er ist schlicht und ergreifend „back in action“ und das, meine Damen und Herren, ist der sagenwumwobene Muscle Memory Effekt bei der Arbeit – das Muskelgedächtnis des Körpers.
In diesen Artikel möchte ich dir den theoretischen Hintergrund und die praktischen Konsequenzen zum Muskelgedächtnis (Muscle Memory Effekt) aufzeigen. Du wirst lernen, welche Zusammenhänge zu dem Phänomen führen, wie die Studienlage dazu aussieht und was das für dich bedeuten könnte.
Artikelinhalte
Muskelgedächtnis (Muscle Memory Effekt): Schneller Muskelaufbau nach Trainingspausen
Das Muskelgedächtnis (Muscle Memory Effekt), Bro-Science und Mythenbildung im Kraftsport
Seit Jahren streiten sich Wissenschaftler, Bodybuilder und Kraftathleten wenn es um Theorie und Praxis geht. Die Mythenbildung beschränkt sich nicht nur auf den alltäglichen Bereich der Ernährung und Diätik (Was ist gesund? Was ist schädlich?), sondern auch auf die Konzepte des Trainings und der Adaption des menschlichen Körpers. Keine Maschine ist derartig komplex und vielschichtig, wie die Machina Homo sapiens.
Bist du ein Bro-Scientologe? Zeit, mit den Mythen aufzuräumen.
Über die Jahre hinweg haben sich also viele Theorien und Mythen entwickelt, die gerne von einigen Leuten abfällig als „Bro-Science“ betitelt werden. Bro-Science? Das sind die praktischen Erfahrungen von Kraftsportlern und Bodybuildern im Studio, auf die keiner so richtig eine Erklärung geben kann, die aber in Kraft treten, sobald man sich von der Theorie wegbewegt und die Hanteln in die Hand nimmt. Es gibt zahlreiche Mythen, die mehr oder weniger bereits in Fachkreisen widerlegt wurden. Sie halten sich aber dennoch auf relativ hartnäckige Weise im allgemeinen Volksmund. Einige prominente Beispiele gefällig? Angefangen bei der Story von der „Fettmasse, die zu Muskeln umgewandelt wird“, über „Definitionstraining mit hoher Wiederholungszahl“ bis hin zu der Behauptung, dass die Muskeln, die man sich im Studio erarbeitet hat, nur aufgepumpt seien und nur „optisch so aussehen, als wenn“ – „alles nur wegen dem Protein und so!“
Unter „Bro-Science“ fallen aber auch all jene Sachen, die in der Wissenschaft und Forschung noch nicht allzu genau untersucht und entschlüsselt wurden. Es sind Erfahrungswerte, die wir heute zumindest noch nicht vollständig aufklären und erläutern können, die aber direkt aus der Praxis stammen und die niemand felsenfest widerlegen kann. Das Muskelgedächtnis des Körpers, der sogenannte Muscle Memory Effekt – auch bekannt als “das Muskelgedächtnis” – ist bekanntes Paradebeispiel dafür.
Doch was genau versteht man unter dem Muskelgedächtnis (Muscle Memory Effekt)?
Analog zu der oben erzählten Geschichte, die unter uns gesagt direkt aus dem Leben eines erfahrenen Bodybuilders stammen könnte, versteht man unter dem Muskelgedächtnis das Phänomen, das eine Person, die bereits vorher in ihrem Leben trainiert hat und nach einer längeren Auszeit wieder zum Eisen zurückkehrt, in einem unglaublichen Tempo Fortschritte macht was Kraft, Muskeldichte und Optik betrifft. Zwar wird man vermutlich nicht nach mehreren Jahren Trainingspause nicht innerhalb von 2 Monaten in seine alte Form zurückfinden, doch es ist durchaus realistisch anzunehmen, dass +80 % der damaligen Leistung (Optik, Muskulatur) in relativ kurzer Zeit wieder vorhanden sind. Es ist in etwa so, als würde derjenige einen Anfänger-Bonus mal Fünf haben.
Klar das sowas für Außenstehende vielleicht nicht mit rechten Dingen zugeht und man schnell in die Ecke des Steroidmissbrauchs abgestellt werden könnte. Wer sieht es schon gerne, wenn er von einem – ehemals als Würstchen abgestempelten – Lauch plötzlich in Sachen Optik und Kraft überholt wird und das, obwohl man sich Tag für Tag im Studio den Hintern aufreisst? Aber hey: im Kraftsportbereich bekommt man nur wenig geschenkt und auch diejenigen unter uns, die den Muscle Memory-Effekt haunah und am eigenen Leib erfahren, mussten sich dieses Niveau irgendwann einmal im Leben hart erarbeitet haben. Rein andektotisch gesprochen gibt es gar kein Zweifel daran, dass es so etwas wie ein Muskelgedächtnis (Muscle Memory Effekt) gibt.
Es ist wie mit dem Fahrrad fahren: Einmal gelernt, schlummert das Wissen in Körper und Geist und wartet nur darauf, entstaubt zu werden sobald es wieder benötigt wird. Egal ob dies nun 10, 20 oder gar 30 Jahre gedauert hat. Die Festplatte in unserem Kopf vergisst solche Erfahrungen nur sehr selten und neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass auch unsere Muskeln ein Leben lang vom Training im Jugendalter und im Erwachsenenstadium profitieren. Und ich werde euch nun sagen warum.
Die erste Seite der Medaille: Die mentale & neurologische Komponente des Muskelgedächtnis (Muscle Memory Effekt)
Der Mensch vergisst, der Körper nicht. Die Geschichte vom Fahrradfahren dürfte für diesen Bezug das einleuchtendste Beispiel sein (ein anderes wäre vielleicht Schwimmen gewesen):
Jeder der schon einmal auf dem Drahtesel gesessen hat und sich vielleicht noch an die Zeit zurückerinnert, in der er mit Papa/Mama oder Freunden und Bekannten das erste Mal versucht hat ohne Stützräder und ohne Hilfestellung zu fahren, der weiß nur allzu gut wie schmerzhaft die ersten Schritte sein können. Es hat vieleicht mehrere Tage oder Wochen gedauert, bis man nach zahlreichen Stürzen die Balance und die nötige Herangehensweise herausgefunden hat. Fahrradfahren war zu dieser Zeit anstregend und verlangte die volle Aufmerksamkeit von uns ab, während wir verbissen versucht haben, geradeaus zu fahren, den Gehsteig zu nehmen oder gar eine enge Kurve zu schlagen. Doch mit jedem Mal, mit jeder Fahrt und jeder weiteren Minuten, die wir auf dem Bike verbracht haben, lernte unser Gehirn dazu. Irgendwo in unserem Kopf, der Schaltzentrale, sorgte die Synaptogenese dafür, dass sich permanent neue Neuronen ausgebildet und verkabelt haben. Diese Neuronen, stellten sich durch ein fortwährendes Feedback (Umwelt) auf die hereinberechenden Reize ein.
Die Macht der Neuronen: Einmal verkabelt ist das alte Wissen schnell wieder aktiviert. (Photo credit: Wikipedia)
Schon nach wenigen Wochen war dieser unglaubliche Prozess soweit vorangeschritten, dass wir vor lauter Leichtsinn – als Mutprobe oder weil wir sehen wollten, wie gut wir tatsächlich waren – die ersten Versuche zum freihändigen Fahren unternommen haben. Auch hier haben wir uns vermutlich mehrmals auf die Nase gelegt, Schürfwunden zugezogen oder Knöchel verstaucht. Doch wie auch zuvor haben wir es irgendwann gemeistert, gerade Strecken mühelos und ohne die Hilfe der Hände mit dem Radl zu bewältigen. Wagemutige kriegen sogar das freihändige Kurvenfahren hin – eine Erfahrung, die sich selbst auch schon gemacht habe.
Die neurologische Anpassung, die wir in einem solchen Zeitraum erleben ist eine Synthese aus Kopf, Muskulatur und Erfahrung. Im Englischen bezeichnet man dies auch oft als „skill“ („talent you have naturally, skill is developed.“) – eine Fertigkeit, die über Stunden, Tage, Monate und Jahre praktiziert wird und die einem irgendwann so ins Mark und Blut übergeht, dass man nicht einmal mehr über die einzelnen Bewegungsabläufe nachdenken muss. Was zu Beginn harte Arbeit erfordert hat, anstregend gewesen ist und unsere voller Aufmerksamkeitsspanne für sich beansprucht hat, wird nun so ganz nebenbei erledigt, während man ein Sandwich isst und sich nebenher noch auf den Verkehr konzentriert.
Es ist wie der Weg in den Dschungel: beim ersten, zweiten, dritten … Mal ist das Gelände unwegsam, man kennt nicht die einzenen Tücken und Gefahren, die hinter dem Buschwerk lauern: fiese Stolperfallen in Form von Wurzeln, rutschige Passagen, wilde Tiere, knackendes Geäst. Doch mit jedem weiteren Mal, den wir den Weg gehen, wird das Gelände vertrauter und der Weg ebner. Vielleicht habe wir eine Machete oder vielleicht genügt auch einfach das permanente „drauflatschen,“ dass sich irgendwann ein Trampelpfad bildet – ein kleiner Weg. Und mit jeder weiteren Tour wird dieser Weg leichter zu gehen sein, bis wir irgendwann einen Wanderweg haben, der für uns keinerlei Mühe mehr macht.
Wir haben eine Struktur geschaffen, die sich für den Rest unseres Lebens in unser neuronales Gedächtnis einbrennt und die selbst nach mehreren Jahren – vielleicht zunächst einwenig überwuchert und zugewachsen – mit Leichtigkeit wieder freigelegt werden kann.
Das Training mit Widerständen, der Kraftsport in all seinen Facetten (unabhängig davon ob Bodybuilding, K3K oder CrossFit) setzt eine ganze Kaskade von Prozessen in unserem Körper in Gang, die dafür sorgen, dass die Verkabelung in unserem Gehirn in Form von Synpasen permanent dazulernt. Das „unwegsame Gelände“ im Kopf wird zu einem „Trampelpfad“ und entwickelt sich sogar zu einer „gepflasterten Straße,“ wenn wir nur lang genug bei der Sache bleiben, Bewegungsabläufe üben und Gewichte stemmen. Es ist die neuronale Komponente, die eine Struktur in unserem Körper schafft, die nach einer kurzen Vorlaufzeit für uns abrufbar ist und die zumindest einen Teil der rapiden Fortschritte nach einem Wiedereinstieg ins Training erklären kann:
- Motorik, also die Bewegungsabläufe
- Technik der Lastbewältigung
- Kraft und mentale Belastbarkeit („one more repetition!“)
Und das „Freilegen“ dieser alten Strukturen dauert im Wesentlichen gar nicht so lange – im Gegenteil: 2 Wochen können schon voll und ganz ausreichen, um die Aktivierung dieser Signalpfade – dieser alten Erinnerungen – wieder voll einsatzbereit zu machen.
So haben beispielsweise Adkins et al. (2006) einige Apekte untersucht, die durch das Praktizieren diverser Sportarten (Kraft- und Ausdauersport) im Körper hervorgerufen werden. Die durch Krafttraining induzierte motorische Anpassung ist demzufolge auch auf die Neubildung von Neuronen („Synaptogenese“) im Rückenmark zurückzuführen. Darüber hinaus stellten die Wissenschaftler fest, dass auch die Erregbarkeit der Motor-Neuronen ansteigt, d.h. dass die Aktivierung dieser Signalpfade leichter wird. So heisst es im Paper:
„These results demonstrate that the acquisition of skilled movement induces a reorganization of neural circuitry within motor cortex that supports the production and refinement of skilled movement sequences.” (1)
Schließlich gesellt sich zu der neurologischen Anpassung auch eine gewisse Prise von Know-How dazu. Wer selbst jahrelang trainiert und sich auch in Sachen Trainingslehre und Ernährung belesen hat, der kennt vermutlich mehr als nur die „Basics“ des Kraftsports. Er weiß, wie er zu trainieren hat (auch wenn ihm noch die alte Kraft fehlt), er weiß auf welche Übungen sein Körper am besten anspricht und er weiß vermutlich auch, wie er sich zu ernähren hat, um dem Körper all die nötigen Baustoffe für eine Re-Adaption und Muskelwachstum zu beschaffen.
Diese mentale Komponente nimmt einen indirekten Einfluss auf die Fortschritte und die Geschwindigkeit, mit der diese Forschritte erzielt werden können.
Doch können diese beiden Elemente das vermeintliche Muskelgedächtnis (Muscle Memory Effekt) adäquat erklären, oder gibt es da vielleicht noch etwas, was wir vergessen haben? Ein entscheidendes Puzzlestück fehlt uns noch im Gesamtbild und es handelt sich dabei vermutlich um ein sehr großes Segment: die physiologische Komponente.
Die Rückseite der Medaille: Die physiologische Komponente, Multi-Core Prozessoren und Satellitenzellen im Kontext des Muskelgedächtnis (Muscle Memory Effekt)
Der vielleicht interessanteses Aspekt an der ganzen Geschichte mit dem Muskelgedächtnis ist ein ganz anderer. Mittlerweile hat man den Muskelwachstumsprozess dank neuster Technik genauestens untersucht und auch herausgefunden, wie Hypertrophie – also eine Verdickung des Muskelquerschnitts – von statten geht. Und das Verstehen um diesen Vorgang erleichtert es ungemein dem Memory-Effekt auf die Spur zu kommen. Also bleibt für ein Weilchen bei mir und schweift nicht ab, nur weil ihr denkt, dass ihr die ganze Geschichte schon in und auswendig kennt. Was passiert also im Muskel, wenn das Muskelgedächtnis (Muscle Memory Effekt) in Aktion tritt?
Ein Wunder der Natur: Die Skelettmuskulatur. (Photo credit: Wikipedia)
Klar, am Anfang der ganzen Reaktionskette steht das Training selbst. Der mechanische Reiz der Bewegung sorgt dank eines Overloads, also einer Überbeanpruchung der Muskulatur dafür, dass feine Risse im Muskel entstehen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Mikrotraumata. Das Konzept des Muskelwachstums besteht darin, dass unser Körper alles ihm erdenklichen Maßnahmen ergreift, um diese Risse in Zukunft zu vermeiden. Er sorgt also in letzter Instanz nicht nur dafür, dass die Risse verheilen und somit der Urpsrungszustand wiederhergestellt wird, sondern er sorgt auch gleichzeitig dafür, dass die Muskelfasern widerstandsfähiger, robuser, dicker und größer werden, damit er nicht noch einmal in diese Verlegenheit kommt, denn immerhin könnte sich das schwache Gewebe irgendwann als fatal erweisen und das Ende des Körpers besiegeln. (Natürliche Selektion ; das Recht des Stärkeren und so…).
Er muss also die Leistungsfähigkeit steigern. Der Reperaturprozess geschieht im wesentlichen durch weiße Blutkörperchen, sogenannte Granulozyten, die beschädigtes Gewebe erst ab- und dann mit Hilfe von Makrophagen wieder aufbauen. Doch das ist noch nicht alles.
An den Basalmembranen der Muskelfasern sitzen sogenannte Satellitenzellen, eine einkernige Myoblasten-Art (Sarkoblast), von der man salopp gesagt behaupten kann, dass sie sich noch nicht dafür entschieden hat, welche Funktion sie einmal im Körper übernehmen möchte. Diese spindelförmigen Vorläuferzellen der Skelettmuskelfasern sind von entscheidender Bedeutung für die muskuläre Regenerationsfähikgeit, da sie u.a. die Myofilamente Aktin und Myosin synthetisieren. Das Erstaunliche ist aber, dass diese Satellitenzellen im Regenerationsprozess in die Muskelfaser mit eingebaut werden – quasi eine Art von Zellfusion stattfindet – und dort existieren diese Zellen fortan weiter. Ein „Mitbringsel“ dieser Zelle ist ein eigene Zellkern, der sogenannte Nucleotid.
Wir haben unserer Muskelfaser also im Zuge des Trainings und der anschließenden Regeneration zu einer weiteren Schaltzentrale verholfen, die nun innerhalb der Faser agiert. Wann immer wir also ausreichend schwer und hart trainieren – und natürlich wieder regenerieren – desto mehr Kerne, Myonuclei (Mehrzahl von Nucleotid ist Nuclei), werden der Faser zur Verfügung gestellt (2). (Übrigens: in Sachen Satellite-Cell Recruitment, hat Doc Andro einige interessante Artikel im petto, die ihr im Anhang findet)
Muskelgedächtnis (Muscle Memory Effekt): Die Theorie der Multikerne, DNA-Units und Muskelwachstum
Natürlich ist die Annahme, eine Muskelfaser würde zu irgendeinem Zeitpunkt nur aus einem Kern bestehen, nicht gerade logisch (es sei denn wir beginnen irgendwo im Embryo). Schon kurz nach der Geburt erhöht sich nämlich die Zahl der Nuclei quasi automatisch durch Proliferation (Zelldifferenzierung) und Fusion von Satellitenzellen. Diese „theory of multi-nucleation“ erfuhr neuerdings durch einige aktuelle Forschungsarbeiten von Gundersen & Bruusgaard et al. , zunächst im Jahr 2006, aber dann auch im weiteren Verlauf, neue Impulse die zu interessanten Erkenntnissen führen.
Muskelzellen sind in vielerlei Hinsicht anders strukturiert als andere Zellen (z.B. Hautzellen) und bestehen in aller Regel aus mehreren hundert Nuclei, die alle eine Kontrollfunktion innerhalb der Muskeln inne haben (eine Hautzelle hat beispielsweise nur ein solchen Schaltzentrum). Jene Kerne regeln unter anderem, wie viel genetische Material der Zelle zur Verfügung steht und damit auch wieviel Protein produziert und eingelagert wird. Bereits jetzt dürfte es einwenig deutlich sein, dass es durchaus von Vorteil ist, wenn man über viele Nuclei in den Muskelfasern verfügt. Es herrscht nämlich eine ganz klare Abhängigkeit vom Nuclei in Sachen Protein-Turnover.
Typischerweise verfügen untrainierte Muskeln mit langsam zuckenden Muskelfasern über eine größere myonucleare Dichte, während die der schnell zuckenden Fasern zwar geringer ausfällt, jene dafür aber auch größer im Volumen sind. Das heisst aber auch, dass die Kerne in den langsam zuckenden Fasern – bedingt durch ihre höhere Anzahl – allein für sich innerhalb des Zytoplasmas über ein kleineres „Territorium“ herrschen. Damit kommen wir auch zur Definition der sogenannten „DNA-Units“:
DNA-Unit: Es ist das theoretische Volumen des Zytoplasmas mit einem einzigen Kern (Myonucleus).
Die Beeinflussung der Anzahl der Myonuclei bzw. DNA-Units innerhalb der Muskelfasern hat damit auch einen Einfluss auf atrophische und hypertrophische Reaktionen des Muskels. So zeigt eine ganze Reihe von Untersuchungen an Tieren, wo bestimmte Muskeln entfernt und die Synergisten folglich einem massiven Overload ausgesetzt wurden, dass sich die Anzahl der schnell zuckenden und langsam zuckenden Muskelfasern rapide erhöht (3)(4)(5).
Eine der vielen Untersuchungen, die an Katzen, bei denen der Gastrocnemius und der Soleus entfernt wurden, durchgeführt wurden, zeigten beispielsweise eine Erhöhung der schnell zuckenden Fasern um 177 % und eine Erhöhung der langsam zuckenden Fasern um 152 % an. Es fand jedoch keine signifikante Erhöhung des Zytoplasmavolumens (bei den langsam zuckenden Fasern) statt. Konkret gesagt: Infolge der Hypertrophie fand eine proportionale Erhöhung der Kerne statt. Nun fragte sich die Wissenschaft: Woher kommen diese zusätzlichen Kerne? Die Antwort: Es sind die Stammezellen aus der direkten Umgebung, die Satellitenzellen, die mittels Zellfusion „in die Bresche“ springen, um den Muskel zu verstärken.
Das Bild differenzierte sich bei den schnell zuckenden Muskelfasern (die Muskelfasern, die im Verhältnis zu den langsam zuckenden Fasern die Größten sind): Das Zytoplasmavolumen verringerte sich signifikant im Hinblick auf das Myonuclei-Verhältnis. Die Anzahl der Kerne stieg also in diesen Fasern proportional stärker an, als die Fasergröße und damit verringerte sich auch die DNA-Unit der schnell zuckenden, hypertrophierten Fasern um 25 % (6).
Schauen wir uns die Ergebnisse bei den schnell zuckenden Muskelfasern an, so wird klar, dass eine größere absolute Anzahl von Myonuclei über ein wesentlich kleineres Gebiet „herrschen,“ als es vor dem Hypertrophie-Prozess der Fall war (da sie proportionall stärker in der Anzahl gestiegen sind). Simpel formuliert heisst das aber nichts anderes, als dass eine bessere Kontrolle über diese Körperregion ausgeübt werden kann. Jose Antonio beschriebt diese Situation anhand einer Analogie mit Staaten:
Wenn wir davon ausgehen, das Nationen eine Ressourcenallokation (Verteilung) vornehmen und wir die Wahl haben zwischen einer Zentralregierung (1 Nucleus) und vielen, dezentralen Regionalregierungen (Bundesstaaten ; mehrere Nuclei) und uns dann noch anschließend die Frage stellen, bei welche Form eine effizientere Verteilung erfolgt, dann wird klar, dass eine lokale Leitung eher in der Lage ist zu sagen, welche Ressourcen benötigt werden, als eine zentralisierter Machtpol. (Seien wir mal ehrlich: die Planwirtschaft hat einfach nicht so recht hingehauen).
Fazit: Eine höhere myonucleare Dichte sorgt für eine bessere Muskelfaseranpassung und –adaption.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Widerstandstraining, ein Dehnungs-Overload sowie das Entfernen von Synergisten zu einer starken Muskelbelastung führen, die in der Folge in Hypertrophie – also einer Vergrößerung des Muskelquerschnitts – münden. Die Anzahl der Nuclei reagiert aber innerhalb der Muskelfaserverteilung unterschiedlich, d.h. sie steigt in schnell zuckenden (den Großen) Muskelfasern proportional stärker an, als in den langsam zuckenden.
Verschiedene Muskeltypen (Photo credit: labguest)
Es ist mittlerweile auch bekannt, dass nicht alle Teile der Muskulatur gleichermaßen adaptieren. Die Hypertrophie setzt in der Regel verstärkt in der proximalen (der näheren) und mittleren Region ein und dafür weniger in der distalen (der entfernteren) Region. Ein typisches Beispiel ist die Entwicklung der Oberschenkelmuskulatur beim Leg Extension. Erfahrungsgemäß wächst die Muskulatur stärker in der oberen, stark belasteten Region und dafür weniger am Ende des Knies. Ein anderes Beispiel ist der Bizeps, der seinen Peak in der Mitte entfaltet und zum Ende hin abflacht. Dies impliziert, dass die einzelnen Myonuclei innerhalb der Muskelfaser unterschiedlich auf den mechanischen Stress reagieren. (unter uns gesprochen: dies allein rechtfertigt schon das Bearbeiten des Muskels mittels unterschiedlicher Übungen, um die Muskulatur gleichmäßig zu belasten).
„Okay,“ werden nun einige von euch sagen, „jetzt wissen wir, wie Hypertrophie von statten geht, aber was hat das und die Sache mit den Kernen denn nun mit dem Memory-Effekt zu tun?“
Berechtigter Einwand.
Bereits in einer Studie von 1992 konnten Winchester/Gonyea anhand eines Stretch-Models für Muskel-Overload an Vögeln zeigen, dass im Zuge der Atrophie die Anzahl der einst hinzugewonnen Muskelfasern bei fehlender Belastung selbst nach 120 Tagen über dem basalen Ausgangsniveau verharrt. Hierzu hat man bei Vögeln einen Flügel mit zusätzlichen 10 % des Eigengewichts belastet, während der andere Flügel zur Kontrolle unbelastet blieb. Bereits nach 30 Tagen des konstanten halten des Gewichtes, zeigte sich ein deutlicher Hypertrophieprozess und somit eine Erhöhung der Muskelmasse, der Muskelfaser-Area und der Muskelfaseranzahl. Nachdem man das Gewicht entfernt hatte (und die Belastung ausbliebt), schrumpfte (atrophierte) der Muskel wieder bis auf das Ausgangsniveau zurück. Die Anzahl der Muskelfasern blieb jedoch, wie oben bereits erwähnt, höher als zu Beginn des Experimentes, was zeigt, dass der Körper des Vogels bestrebt war, einen Teil der neu rekrutierten Fasern zu behalten.
Merke: Mehr rekrutierte (ansprechbare) Fasern = größere Kraftentwicklung.
In neueren Untersuchungen und Diskussionen haben Gundersen/Bruusgaard et al. zeigen können, dass Hypertrophie, Zytoplasmavolumen und Kernanzahl in enger Korrelation zueinander stehen. In einem Experiment an Ratten stieg die Kernanzahl im Alter von 2-14 Monaten kontinuierlich an. In Folge der Atrophie wurde eine Reduktion von Nuclei nachgewiesen, doch die Frage, die hier offen blieb war: WELCHE Kerne gingen durch Apoptose (Zelltod) verloren? Die Myonuclei? Oder handelte es sich um andere Zellkerne (8)?
In einem Paper von 2008 klärten Gundersen/Bruusgaard die Frage schließlich selbst. Wie bereits bekannt, erfolgt die Hypertrophie durch das „Einbauen“ von Satellitenzellen in die Muskelfasern (und damit auch das Einbauen von weiteren Kernen). Man war sich lange Zeit nicht sicher, ob durch den Vorgang der Apoptose nun jene Satellitenzellen betroffen sind oder nicht, da hier in vivo (im lebenden Objekt) und ex vivo (im Reagenzglas) Studien zeigten, dass das Zytoplasmavolumen („Herrschaftsgebiet eines Kerns“) nicht konstant ist. Die Forscher kommen in ihrer Diskussion zu dem Ergebnis, dass Muskelatrophie kurzfristig nicht von Myonuclei-Verlusten begleitet wird (und das für mehrere Wochen). Apoptose, der Prozess des Zelltodes, findet innerhalb der Muskelfasern statt, die Kerne der Satellitenzellen sind davon jedoch nicht betroffen. „Disuse Atrophy“ – also eine Atrophie im Zuges des Nicht-Gebrauchs der Muskulatur (fehlendes Training) wird für mindestens 2 Monate nicht in Verbindung gebracht mit einem Verlust aun Myonuclei.
Extremer: Es wurde überhaupt noch nicht nachgewiesen, dass Myonuclei bei permanenter Atrophie der Apoptose unterliegen.
Gehen wir noch zwei Jahre weiter, also ins Jahr 2010. In einer weiteren Studienreihe zeigten Gundersen/Bruusgaard schließlich wie wohlgefeit die Myonuclei vor Apoptose, auch nach einer längeren De-Training Periode, geschützt sind. Myonuclei gehen infolge von Atrophie nicht verloren:
„The old and newly acquired nuclei are retained during severe atrophy caused by subsequent denervation lasting for a considerable period of the animal’s lifespan” (10).
Die Forscher konstatieren aber auch, dass es mit zunehmendem Alter immer schwerer wird, neue Kerne (also Satellitenzellen) in die Muskelfasern zu rekrutieren. Dies sorgt vor allem für eine Diskussion hinsichtlich sportlicher Belastung im Kindes- und Jugendalter. Die Theorie: Je eher man anfängt, die Muskelfasern mit Kernen „vollzupumpen,“ umso besser steht man im Hinblick auf Degeneration im späteren Lebensabend dar. Eine weitere Erkenntnis, die aber auch nicht neu ist:
Der Missbrauch von Steroiden, z.B. Testosteron ermöglicht eine massive Steigerung von Myonuclei innerhalb der Fasern, die sogar im Stande ist, das natürliche Limit sprengen. (siehe auch (15)) Hierin wird auch das Ausmaß von Steroidmissbrauch in Wettbewerbssituationen deutlich, denn wenn die Theorie standhält, dass einmal eingebaute Kerne niemalsoder zumindest für viele Jahre nicht verloren gehen, so verfügen diejenigen Personen, die für einen gewissen Zeitraum Steroide genutzt haben, über einen quasi lebenslangen Vorteil infolge einer höheren Anzahl von Myonuclei innerhalb der Muskelfasern. Harter Tobak, wenn ihr mich fragt.
Das Muskelgedächtnis (Muscle Memory Effekt) bei der Arbeit
Wie sieht nun die empirische Lage aus? In einer Studie an einer Gruppe von Frauen (n=6) konnten Staron et al. (1991) zeigen, dass innerhalb einer 20 wöchige Trainingsperiode im Bereich der unteren Extremitäten eine Muskelfasererhöhung zwischen 16-47 % stattfand. In einer anschließenden 30-wöchigen De-Training Phase verloren die Probandinnen jedoch nur 1 – 14 % ihrer Muskelfasergröße in Folge der Atrophie. Wenn man bedenkt, dass die Frauen nun mehr als 7 Monate vom Training abstinent gewesen sind, ist das schier phänomenal. Doch damit nicht genug: man wollte wissen, welcher Zeitraum benötigt wird, damit diese sechs Frauen einen annährend identischen Muskelquerschnitt wie nach der Trainingsphase erreichen. Das Ergebnis: bereits nach einer 6-wöchigen Re-Training Phase (!) hatten die Frauen die Muskelmasse erarbeitet, die sie vormals innerhalb von 5 Monaten aufgebaut hatten (11)!
In weiteren Studien haben sich Andersen et al.mit der Muskelfaserzusammensetzung und De-Training beschäftigt. In einer davon waren die Testsubjekte junge Männer mit überwiegend sitzender Tätigkeit, die eine 3-monatige Trainingsphase mit anschließender 3-monatigen De-Trainings-Phase absolviert haben. Die Messungen wurden im Vastus Lateralis vor dem Beginn des Experiments, nach der 3-monatigen Trainingsphase und ein weiteres mal nach der 3-monatigen De-Training-Phase durchgeführt. Man untersuchte hierbei die „Myosin-Heavy-Chain“-Ketten (MHC), die Fasertypenzusammensetzung und die Fasergröße. (Für eine detaillierte Beschreibung der Muskelfasertypen siehe hier)
Nach Ablauf der Trainingsphase lagen folgende Ergebnisse vor:
- Der Anteil an MHC IIX-Fasern sank von 9% auf 2%
- Der Anteil an MHC IIA-Fasern stieg von 42% auf 49%
Nach der De-Training Periode erhöhte sich der Anteil der MHC IIX-Fasern auf einen neuen Höchstwert, der sogar den basalen Wert überstieg – er stieg nämlich auf 19 %. Doch was heisst das nun? Es ist bekannt, dass bei schwerem Krafttraining auch eine Transformation der Muskelfasern stattfindet. Wenn man schwer hebt, wird ein anderer Faser-Typ (Maximalkraft) benötigt, als wenn man über einen längeren Zeitraum ein niedrigeres Gewicht (Kraftausdauer) bewegt. Es stehen anschießend mehr IIX-Fasern zur Verfügung, als zu Beginn des Experiments oder gar zum Ende der Trainings-Phase bereit (12).
Während in der obigen Studie eher die Geschwinigkeit im Vordergrund stand. Zeigten Andersen et al. (2005) in einer weiteren Studie den Effekt einer Trainingsphase mit anschließender De-Training-Phase (Trainingspause):
„In conclusion, detraining subsequent to resistance training increases maximal unloaded movement speed and power in previously untrained subjects. A phenotypic shift toward faster muscle MHC isoforms (I –> IIA –> IIX) […] (13).
Zu Deutsch: Die Forscher konstatieren einen phenotypic shift der MCH-Ketten von Typ I (langsam) zu Typ IIA (moderat schnell, via Krafttraining) zu Typ IIX (sehr schnell, De-Training).
Eine dritte Studie, ebenfalls aus dem Jahr 2005, untersuchte daneben auch die neuromuskuläre Adaption eines 3-monatigen Trainingsprogramms mit nachfolgender 3-monatiger De-Training Phase. Die Probanden waren 13 junge Männer mit überwiegend sitzender Tätigkeit. Was zeigt uns diese Studie?
Durch das Training erhöhte sich das Kraftmoment…
- …während einer langsamen exzentrischen Bewegung um 50 % (höchst signifikant)
- …während einer schnellen extentrischen Bewegung um 25% (höchst signifikant)
- …während einer langsamen konzentrischen Bewegung um 19 % (sigifikant)
- …während einer schnellen konzentrischen Bewegung um 11 % (signifikant)
Der Muskelquerschnitt der Probanden vergrößerte sich um 10 % und nach der De-Training Phase (3 Monate später) stellten die Forscher fest, dass die die Muskelkraft im exzentrischen Moment nocht vorhanden war, im konzentrischen Moment dagegen nicht. Ein Beispiel für die Langzeiteffekte von Krafttraining auf das Kraftlevel und die damit verbundene neuronale Adaption im exzentrischen Moment (14).
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Zusammenfassung | Das Muskelgedächtnis (Muscle Memory Effekt)
Wir haben uns nun einen Weg durch die diffuse Landschaft des Muskelgedächtnisses, dem mythologischen Muscle Memory-Effekt geschlagen, der zu erklären versucht, warum Menschen, die schon einmal trainiert haben, in einem Bruchteil der einst benötigten Zeit wieder in annährender Topform auflaufen. Es ist die Story von John, der nach jahrelangem Nichts-Tun innerhalb kürzester Zeit wieder „on top“ ist, wahninnige Gewichte bewegt und Fortschritte feiert, die sie nur ein Anfänger oder Steroidkonsument erlebt.
Dies haben mir maßgeblich erreicht, dass wir den Memory-Effekt in drei wesentliche Komponenten zerlegt haben, die allesamt in der Summe einen Erklärungsversuch unternehmen, der zumindest akzeptabel nachvollziehen lässt, was für einen Impact eine einstige Trainingskarriere mit sich bringt.
Wir haben die neuronale Komponente, die die nötigen Strukturen und Schaltwege in Form von Neuronen in unserem Kopf etablieren. Es ist salopp gesprochen wie Fahrradfahren, dass man Zeit des eigenen Lebens nicht mehr verlernt. Klar, die ersten Schritte werden wacklig sein und man wird vermutlich nicht von heute auf morgen wieder freihändig fahren können, ohne das Risiko einzugehen, sich lang zu machen. Das Archiv in unserem Kopf erlaubt es uns innerhalb kürzester Zeit die alten Bewegungsabläufe wieder zu verinnerlichen. Auch die Rekrutierung der einst benutzten Muskelfasern erscheint leichter und schneller zu erfolgen, was einen weiteren Kraftbonus bei der Rückkehr in Gym gewiss macht.
Mit dem zweiten Element, der mentalen Komponente habe ich eine indirekte Beeinflussung angesprochen, die sich im Zuge von angeeignetem Know-How manifestiert. Trainingslehre und Ernährungswissen sind von ungemeinem Vorteil, wenn es um die eigene Zielsetzung geht. Zusätzlich wird man als ehemaliger Eisensportler seinen Körper zudem besser kennen, als der typische Couchpotatoe. Man weiß dank bewußter Ernährung auf welche Lebensmittel man gut anspricht und welche weniger geeignet sind. Man weiß aus Erfahrung, welche Muskeln auf welche Übungen am besten ansprechen und welche Übungen nicht zum gewünschten Erfolg führen.
Diese beiden Puzzle-Stücke verschmelzen zum sogenannten „skill“ – der puren praktischen Erfahrung, die man im Verlauf seiner Karriere fortwährend akkumuliert hat. Doch unser Puzzle ist noch nicht fertig, denn ein entscheidender Teil fehlt noch.
Die physiologische Komponente baut auf dem Training auf: das Aquirieren von Muskefasern und schlussendlich das Austatten derselben mit einer ganzen Armee von Satelittenzellen – und damit auch weiterer Kerne, den Myonuclei, im Zuge der Hypertrophie stellt ein probates Modell dar, wenn es darum geht zu erklären, warum ehemalige Kraft-Athleten innerhalb kürzerester Zeit wieder „buffed“ im Studio stehen und mit jedem Tag zu wachsen scheinen.
Die Studien von Gundersen et al. zeigen, dass „Disuse-Atrophie“ nicht das Gleiche bedeutet, wie der Verlust von Myonuclei oder gar Muskelfaseranzahl. Die einst versammelte „Power“ des Muskels schlummert noch immer wie eine Armee, die darauf wartet, wieder in den Dienst gerufen zu werden. Mehr Kerne, dass heisst mehr Schaltzentralen, mehr Protein-Turnover. Wir haben bereits eine mächtigen Karosserierohbau, der selbst nach jahrelanger Trainingsabstinenz nicht verloren geht. Jetzt fehlt nur noch die Reaktivierung – und natürlich massig Protein – um wieder ganz oben mitzumischen. Gundersen et al.haben nämlich gezeigt, dass die Kerne im Muskel nicht so einfach wegsterben, wie man einst angenommen hat.
Unterstützung findet diese „theory of multi-nucleation“ u.a. durch die Andersen-Studien, die eindrücklich aufzeigen, dass De-Training Phasen sogar von Vorteil sein können (Stichwort: Periodisierung von Trainingspausen). Kraft und Kraftausdauer verharren über dem basalen Wert, gleichzeitig findet in der Trainingspause ein Adaptionsprozess statt, der die Muskelfaserreserve (wir erinnern uns: MHC’s) vergrößert.
Weitere empirische Unterstützung liegt in der Studie von Staron et al. vor, bei der 6 Frauen selbst nach einer dreißígwöchigen Trainingspause nur einen Bruchteil der zuvor erarbeiteten Muskelmasse verloren hatten. Was aber noch viel eindrucksvoller war: es hat nur 6 Wochen gedauert, bis diese Frauen ihr altes Volumen erreicht hatten – das, meine lieben Freunde, ist der Muscle Memory Effekt bei der Arbeit.
Wie auch die Forscher in ihren Arbeiten konstatieren: Es macht einen gewissen Sinn bereits im frühen Alter mit dem Training anzufangen (ich rede nichz zwangsweise von Krafttraining im Gym). Die Tatsache, dass mit zunehmendem Alter weniger Kerne in die Muskelfasern eingelagert werden können, begünstigt auch den altesbedingten Abbau von Körpersubstanz (z.B. den protein-turnover), gleichzeitig ermöglich eine ausgeprägte Muskulatur eine höhere Lebensqualität. Muskeln verrichten nicht nur Arbeit, sie stabilisieren auch den Körper und – seien wir doch mal ehrlich: Es ist nicht besonders ermutigend, wenn man den Lebensabend in einem bettlägrigen Zustand verbringen muss. Die Fähigkeit, sich auch im Alter noch auf eigenen Beinen und wohlmöglich ohne Beschwerden zu bewegen, ist pure Lebensqualität und ein Garant für Selbstständigkeit – auch im Alter.
Ich weiß, dass der Text stellenweise recht trocken ist, aber ich hoffe, dass euch das Lesen zumindest soviel Spaß gemacht hat, wie es mir das Schreiben getan hat. Lange Zeit rankten sich Gerüchte und Mythen um das Muskelgedächtnis und vieles davon lagert noch immer im Universum des Bro-Science. Nachdem ihr nun all die kostbare Zeit zum Studieren dieses Textes aufgebracht habt, hoffe ich inständig, dass ich einwenig Licht in das Dunkel bringen konnte.
Sofern jemand also in eurer Nähe auf den Mythos Muskelgedächtnis (Muscle Memory-Effekt) zu sprechen kommt, werdet ihr gewiss nicht mit fehlenden Worten dastehen. Ihr werdet nicht länger im Trüben fischen und euch irgendwas zusammenreimen müssen.
Denkt immer daran: “Knowledge is power” (Sir Francis Bacon). In diesem Sinne.
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Bildquelle Titelbild: Fotolia / Artem Furman
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