Von Dr. Christian Zippel | Benötigte Lesezeit: 15 Minuten |
Wir trainieren wie auf Schienen. Doch Schienen bedeuten nicht nur Sicherheit. Sie sind auch ein Gefängnis. Wir können nicht von ihnen ab lassen, denn wenn wir es gewohnt sind, uns einzig und allein auf Schienen zu bewegen, dann sind wir ohne sie ziemlich hilflos.
Unser Körper ist ein wahres Wunder, aber er kann nicht zaubern. Er entwickelt sich immer nur so, wie er auch gefordert wird. Denn fordern bedeutet fördern. Das gilt für alles im Leben. Wenn man etwas fördern will, bringt es nichts, es einfach nur zu unterstützen oder zu zwingen. Man muss dieses etwas fordern – im Sinne von herausfordern. Denn wenn etwas lebt und auch den Willen des Lebens – den Willen zur Entwicklung – in sich trägt, dann wird es die Herausforderung annehmen und auch daran wachsen. Alles andere ist tot – willenlos. Der Wille ist die schöpferische Triebfeder allen Schaffens: Dein Wille ist die Kraft, das Potenzial Deines Körpers zu verwirklichen.
Artikelinhalte
Dein Körper folgt Deinem Willen
Aber weiß Dein Wille wirklich, was gut für Deinen Körper ist? Kommen wir auf die Schienen zurück. Wir trainieren unseren Körper meistens so, als wäre er ein Zug und genau so wird er sich auch entwickeln – ungelenk, gefangen und störungsanfällig.
Wir müssen aber einen Offroad-Jeep aus ihm machen. Einen Körper, der für alle Richtungsänderungen und Unebenheiten gewappnet ist. Einen Körper, der frei ist, robust und vielseitig.
Sprengt die Schienen eures Trainingsalltages
Dabei beziehe ich mich nicht nur auf Isolationsübungen. Diese werden sowieso grundlegend falsch verstanden, deswegen möchte ich es hier noch einmal klipp und klar sagen: Isolationsübungen sind etwas für überaus fortgeschrittene Athleten. Sie sollten nur ganz gezielt eingesetzt werden. Ansonsten bringen sie das muskuläre Gleichgewicht durcheinander und führen zu Dysbalancen sowie asymmetrischen Entwicklungen. Wer sich jedoch diese Schienen legt, bei dem werden auch einige unnötige Verletzungen und Abnutzungserscheinungen auf dem Fahrplan stehen.
So stark wie eine Lok sein ist schön und gut, aber wenn die Schienen enden, dann ist auch für dich meist Endstation. Die Lösung: Umsatteln auf Offroad! (Bildquelle: Flickr / Thephotographymuse ; CC Lizenz)
Ganz besonders beschränkt sind die Isolationsübungen an Maschinen. Hier bewegt sich der Widerstand und sehr oft sogar auch der bewegte Körperpart sehr eindimensional. Diese Geräte sind genormt und alles bewegt sich wie auf Schienen. Das mag zwar Sicherheit vorgaukeln, aber vielmehr das Gegenteil ist der Fall – wie ich gleich noch aufzeigen werde.
Aber es sind nicht nur Isolationsübungen, die wie auf Schienen laufen. Oft sind es auch die freien Mehrgelenksübungen. Auch sie können zu einem Gefängnis werden und das unabhängig davon, ob sie in 2D (mit der Langhantel) oder in 3D (mit Kurzhanteln) ablaufen.
Wenn ich mein letztes Trainingsjahrzehnt und auch die Zeit darüber hinaus Revue passieren lasse, dann wird mir immer mehr klar, dass ich viele Schwächen, Beschwerden und Verletzungen selbst verschuldet habe. Ich war zu nachlässig in einem ganz bestimmten, überaus bedeutenden und doch oft vernachlässigtem Trainingsparameter: Variation. Und wenn ich mich so umsehe, bin ich da nicht alleine.
Muskelaufbau: Mehr Wachstum und Sicherheit durch Variation
Die Bedeutung der Variation
Na klar, jeder weiß, dass Variation wichtig ist, aber hier soll es nicht um die Variation der Trainingssysteme gehen – die ist bei den meisten ja durchaus vorhanden –, sondern um die Variation der Bewegungsausführung.
Ich hätte schon viel früher darauf kommen sollen. Obwohl ich immer stärker wurde und immer schwerere Gewichte bewegen konnte, bekam ich immer wieder Gelenkbeschwerden – wie so viele. Aber wo blieben die so oft versprochenen gelenkstärkenden Effekte schweren Freihanteltrainings?
Darüber hinaus verlief die Entwicklung manchmal extrem zäh – so als ob mir der böse Katabolismus Klebstoff auf die Schienen geschmiert hätte. Mir blieb doch gar nichts anderes übrig, außer zu stoffen. 13 Jahre Training auf Natural-Schienen im Schneckentempo können sehr hart sein – insbesondere dann, wenn die hormongetränkten Rennpferde im Eiltempo an einem vorbeiziehen.
Der Wert der Beharrlichkeit
Aber dann erinnerte ich mich an Aesops Fabel von der Schildkröte und dem Hasen. Aesop war ein sehr bedachter griechischer Mann. Er war ein Mann des Geistes. Er lebte 600 v.u.Z. und ist als Begründer der Fabeldichtung in die Geschichte eingegangen. Vor allem war er auch ein Mann des Geistes, weil sein Leib jemand anderem gehörte. Er war nämlich Sklave. Doch das beirrte ihn nicht. Den Geist kann man nicht einsperren – denn die Gedanken sind frei.
“Hard work beats talent if talent doesn’t work hard.” Aesops Fabel vom Hasen und der Schildkröte ist ein Musterbeispiel dafür, was Geduld und stetige Progression zu leisten vermögen. Ob langsam oder schnell: Langsame Progression ist besser, als keine Progression. (Bildquelle: Silly Symphony)
In der Fabel von dem Hasen und der Schildkröte geht es – oh Überraschung – um einen Hasen und eine Schildkröte. Es geht dabei aber nicht nur um die Tiere selbst, sondern auch um die Charaktereigenschaften dahinter. Diese Charaktereigenschaften müssen wir erkennen und auf die Menschen zu übertragen wissen, um auch wirklich etwas aus der Fabel lernen zu können:
Eine Schildkröte, wegen ihrer Langsamkeit von einem Hasen gehöhnt, wagte es doch, ihn zu einem Wettlauf herauszufordern, den er auch, mehr aus Scherz als aus Prahlerei, annahm. Der Tag des Wettlaufs kam; das Ziel wird bestimmt, beide betreten in dem nämlichen Augenblick die Bahn.
Die Schildkröte kriecht langsam, jedoch unermüdlich fort: der Hase legt sich, um den Hohn gegen die Schildkröte aufs höchste zu treiben, nach unendlich vielen Seitensprüngen, nur noch wenige Schritte vom Ziele entfernt, in das Gras nieder und schläft aus Mattigkeit ein, bis er durch der Zuschauer lauten Jubel geweckt, die Schildkröte bereits oben an dem Ziel erblickt.
Schon sah er sie zurückkehren, ging aber aus Scham auf die Seite und gestand frei: in seinem zu großen Vertrauen auf seine Behändigkeit habe ihn das langsamste Tier von der Welt beschämt.
Oft werden gute, aber flatterhafte Köpfe von mittelmäßigen, aber anhaltend fleißigen, eingeholt, ja übertroffen.
Viele bleiben auf der Strecke
Und so besonn` ich mich auf Aesop und zog das Schneckentempo meiner Entwicklung dem rasanten aber hektischen Fortstürmen anderer Athleten vor. Ich wurde darin mehr als nur bestätigt. Viele einst glänzende Rennpferde strauchelten, verloren ihr Ziel aus den Augen und einige blieben auch ganz auf der Strecke und fanden dort ihren Ausgang aus diesem Leben.
Also musste ich andere – bessere – Lösungen für die Probleme meiner langsamen Entwicklung und der verletzungsanfälligen Sensibilität meines Körpers finden. Das Ergebnis dieser Suche habe ich in meinem Buch festgehalten. Ein Aspekt ist in diesem jedoch zu kurz gekommen und ich möchte diese Lücke hier ausfüllen – und ja, dass bereits bevor das Buch zu kaufen ist.
Die Variation der schweren Grundübungen
In meinem Buch vertrete ich die Ansicht, dass einzig und allein schweres, beharrliches und progressives Training aller Variationen der Mehrgelenksübungen die Lösung ist, um einen großen und starken Körper aufzubauen. Auf den Punkt der Variationen bin ich jedoch nicht explizit eingegangen, da es den Rahmen gesprengt hätte; aber für einen Blogeintrag ist es das perfekte Thema. Ein Thema mit überaus viel Potenzial. Insbesondere möchte ich heute den enormen Wert dieser kleinen Veränderungen in der Bewegungsausführung hervorheben.
Eingeschliffene Bewegungsmuster
Die Forschung kommt zu dem Ergebnis, dass man eine komplexe Bewegung ungefähr 20.000 – 30.000 mal ausführen muss, um sie einigermaßen perfekt zu beherrschen. Für das Erlernen der komplexen Mehrgelenksübungen gilt ähnliches. Man muss nun einmal viel drücken, um viel zu drücken.
Während des Erlernens dieser Bewegungen schleifen sich entsprechende Bewegungsprogramme in unser Nervensystem ein. Dabei laufen diese zusehends unbewusster ab, so dass wir die Bewegung irgendwann aus dem FF beherrschen, ohne darüber nachdenken zu müssen. Der Nachteil an der Sache: Der Körper wächst auch immer nur in dem Bewegungsprogramm, in dem er auch trainiert wird.
Wer somit beim Heben, Beugen, Ziehen und Drücken auch immer nur die gleichen Bewegungsprogramme ablaufen lässt, bindet seine Stärke auch an genau diese. Dadurch entstehen teilweise extreme Dysbalancen. Einerseits haben wir somit das Potenzial enorme Kräfte aufzubringen, wenn wir aber im Alltag, im Sport oder bei ungewohnten Belastungen einmal aus diesen Programmen rausfallen und in ungewohnte Bewegungsabläufe gezwungen werden, stoßen wir auf die drastischen Schwächen unseres Körpers und wir bekommen die Beschwerden, die wir so oft bekommen. Wir sind quasi Fachidioten für bestimmte Bewegungen, aber außerhalb dieser stehen wir auf dünnem Eis.
Die Bewegungsmuster durchbrechen
Die Lösung ist sehr einfach. Wir müssen dauerhaft variieren. Natürlich gehört diese Lektion zur absoluten Trainingsgrundschule, aber wenn wir einmal ehrlich sind, hält sich kaum jemand daran. Ich kenne Athleten, die teilweise jahrelang mit den gleichen Bewegungsausführung trainieren. Ich selbst erinnere mich, dass ich über Monate hinweg auf Schienen trainiert habe. Die Systeme habe ich natürlich regelmäßig geändert, aber die Übungsausführungen selbst? Eher selten…
Ich war sogar eher der Ansicht, dass mich dies aufhalten würde – so wie ein Hase der andauernd Haken schlägt und die Richtung wechselt. Ich wollte eher die Schildkröte sein und – mein Ziel fest vor Augen – mich Schritt für Schritt, Kilogramm für Kilogramm voran kämpfen. Straight ahead. Wenn da nicht nur diese träge Entwicklung und die ständigen Beschwerden wären, die mich fast dauerhaft begleiteten.
Also musste ich etwas ändern.
Kleine Veränderung große Wirkung
Die simple Lösung lag ganz einfach darin, so oft wie möglich die Hand- sowie Fußstellung und die Ablage der Hantel zu variieren. Dabei ergeben sich ungeahnte Möglichkeiten. Wenn man die Kunst der Variation der Mehrgelenksübungen beherrscht, benötigt man normalerweise überhaupt keine Isolationsübungen mehr. Hier nur ein paar Beispiele aus der Praxis:
Beim Heben…
…verändere ich regelmäßig die Griffbreite. Ein sehr weiter Griff erlaubt es hier z.B. entweder verstärkt den Latissimus oder den Trapezius zu aktivieren und diese so gezielt mit schweren Gewichten zu trainieren. Den Lat kann man schließlich am besten aktivieren, wenn man die Arme ein wenig vom Körper abspreizt, so wie man es bei der klassischen Lat-Pose sehen kann.
(Bildquelle: Wikimedia.org / Wikimedia Commons
Für den Trapezius gilt das noch mehr. Er zieht die beiden Schulterblätter zusammen und je weiter die beiden Arme ausgestellt sind, desto stärker kann man im Anschluss auch den Trap kontrahieren. Aus diesem Grund sind vorgebeugtes Rudern oder Klimmzüge mit weitem Griff (oder als Isolationsübung: Butterfly Reverse) auch die beste Übung für den Trap. Zumindest gilt das für den unteren und mittleren Trap.
Den oberen Trap kann man am besten mit schulterbreiter Handhaltung trainieren. Seine Aufgabe ist es, die Schulterblätter nach oben zu ziehen – aus diesem Grund lohnt es sich z.B. jede konzentrische Phase beim Heben mit einer Shrug-Bewegung und einer Höchstkontraktion des Traps zu beenden.
Dies gilt auch für das Heben mit breitem Griff – das insgesamt noch relativ unbekannt ist. Die hinteren Schultern werden dabei ebenfalls gut trainiert – wenn auch über einen eingeschränkten Bewegungsumfang. Zumindest sollte man beim Heben auch beständig die hinteren Deltas aktivieren, um die Stange somit einerseits immer körpernah – über dem Körperschwerpunkt – zu führen und andererseits, um den Rücken und den hinteren Delta optimal anspannen zu können.
Auch sollte man die Weite der Fußstellung regelmäßig verändern. Von sehr eng, bis sehr breit (Sumo-Stand) ist hier alles drin und sehr vorteilhaft – insofern die korrekte Technik gewahrt wird. Die Gesäß- und Beinmuskulatur ist ein Kosmos für sich und nur mit einer einzigen oder evtl. auch nur zwei verschiedenen Beinhaltungen kann man hier kein zufriedenstellendes Ergebnis erlangen. Bereits allein der Quadrizeps besitzt vier Köpfe und sie sind dazu gemacht, um den Körper auf alle nur erdenklichen Weisen tragen, beugen und bewegen zu können. Hinzu kommen der große und mittlere Gluteus, die Adduktoren und Abduktoren, die Muskeln des Beinbizeps und noch die gesamten Muskeln der Unterschenkel: der Zwillingswadenmuskel, der Schollenmuskel, die Wadenbeinmuskeln, der vordere Schienbeinmuskel sowie die ganzen Zehenstrecker- und beuger – um nur die wichtigsten zu nennen.
Nur ein oder zwei Fußweiten können diesem Kunstwerk der Evolution bei weitem nicht gerecht werden. Wir sehen doch immer wieder selbst das Ergebnis. Wenn wir bei schwerem Gewicht, bei Erschöpfung oder im Alltag in ungewohnte Positionen kommen, ist die Verletzung oft nicht weit und dann können wir wieder nicht trainieren. Eine umfassende Vorbereitung im Training durch eine Variation aller vernünftigen Bewegungsmöglichkeiten beugt hier deutlich vor. Wir müssen beim Heben somit sämtliche Schienen sprengen. Das Heben allein besitzt die Fähigkeit bedeutend verschiedene Wachstumsreize in den daran beteiligten Muskeln zu setzen und das ohne Isolationsübungen.
Weitere Möglichkeiten bestehen z.B. im Heben mit gestreckten Beinen, um den Schwerpunkt noch mehr auf den Rücken und den Beinbizeps zu legen. Hier kann man ebenfalls wieder mit weitem oder engem Handabstand arbeiten. Auch den bereits erwähnten Sumo-Stil sollte man immer mal wieder anwenden. Es besteht auch die Möglichkeit im Frosch-Stil zu heben, bei dem die Hacken nahe beieinander stehen, die Fußspitzen nach außen zeigen und die Knie auch nach außen bewegt werden. So gut wie niemand kennt diese Übung, aber in ihr liegt bedeutendes Potenzial, um die Innenseite der Oberschenkel und den äußeren Teil des Quads zu trainieren. Es gibt noch weitere hilfreiche Hebevariationen – wie z.B. das Heben im Reverse-Griff -, aber wir wollen ja nicht nur über das Heben sprechen.
Beim Beugen…
…lohnen sich ebenfalls die bereits erwähnten Variationen der Fußstellung und -weite. Ob ganz eng oder auch ganz weit im Powerlifterstil – alles sollte regelmäßig trainiert werden. Ganz enge Kniebeugen mit höheren Gewichten bieten dabei z.B. eine enorme Anforderung an die stabilisierende Muskulatur, da man hier nicht mehr stabil auf zwei Beinen zu stehen scheint, sondern fast nur noch auf einem.
(Bildquelle: Flickr / Ali Samieivafa ; CC Lizenz)
Wie ich nachher noch aufzeigen werde, ist es manchmal sogar die stabilisierende Muskulatur, die weitere Fortschritte verhindert. Eine Kette ist schließlich immer nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Eine Variation in der Bewegung und somit auch eine stärker geforderte Stabilisierungsmuskulatur hat mir schon oft geholfen, diejenigen Kraftplateaus zu überwinden, die ich durch ein gezieltes Training der hauptsächlich arbeitenden Muskulatur nicht passieren konnte. Wie bereits gesagt, man muss die schwächsten Glieder der (Bewegungs-)Kette stärken und nicht ihre stärksten, um insgesamt stärker und in Folge massiger zu werden.
Hinzu kommt beim Beugen die Ablage. An vernünftigen Variationen steht hier z.B. die Frontkniebeuge zur Verfügung. Die Ablage auf den vorderen Deltas und der oberen Brust erlaubt/befiehlt eine aufrechtere Haltung des Oberkörpers und somit eine stärkere Aktivierung des Quads.
Die klassische Kniebeuge mit hoher Ablage auf dem Trapezius sollte wohl die Grundlage allen Beugens darstellen und regelmäßig mit der tiefer liegenden Ablage auf dem hinteren Delta ergänzt werden. All diese kleinen und größeren Variationen stärken die Widerstandsfähigkeit und das Wachstum des Körpers in der Vielschichtigkeit seines Daseins.
Bereits allein beim Beugen, den drei verschiedenen Ablagen sowie sagen wir mal vier unterschiedlichen Fußweiten – von ganz eng, bis ganz weit – können wir bereits 12 verschiedene Variationen durchführen und damit sehr differenzierte Wachstumsreize setzen. Hinzu kommt auch hier die Möglichkeit der Froschbeugen mit engerem Stand und nach außen gerichteten Zehen/Beinen. Mal ganz abgesehen vom Beugen auf unebener oder instabiler Unterlage.
Beim Ziehen…
…betreten wir eine eigene Welt. Diese ist so umfassend, dass ich gerade parallel an einem eigenen Artikel über das Leben an der Klimmzugstange (und weiteren Turnmöglichkeiten) schreibe. Ursprünglich waren wir Affen und auch heute sind noch viele von uns mehr Affe, als viele wirkliche Affen. Auf jeden Fall besitzt unser Körper die Fähigkeit sich auf so unheimlich viele Arten und Weisen hängend und ziehend zu bewegen, dass das einfache Hoch- und Runterziehen an der Klimmzugstange dem Malen eines Aquarells in schwarz-weiß gleicht.
(Bildquelle: Flickr / idoliseR ; CC Lizenz)
Nur kurz: Die Möglichkeiten sind hier enorm: Von ganz engem Griff bis zu ganz weitem Griff ist hier alles drin. Desweiteren: supiniert, proniert, Parallelgriff. Ziehen in den Nacken, zum Hals, zur Brust, zum Bauchnabel. Mit senkrechtem Körper, schrägem Körper – in Rücklage – oder auch mit waagerechtem Körper oder sogar mit Kopf nach unten usw. usf.
Die gesamte Zugmuskulatur des Rückens und die Beugemuskulatur des Armes lässt sich auf diese Weise umfassend trainieren. Hinzu kommt, dass viele dieser Möglichkeiten auch beim vorgebeugten Rudern umgesetzt werden können. Wofür braucht man da noch Isolationsübungen?
Beim Drücken…
…schlussendlich wollen wir es immer ganz genau wissen. Was man auf der Bank drückt ist schließlich unser Aushängeschild – egal, ob wir das mögen oder nicht. Ich wurde sogar schon von einem kleinen Mädchen, das von Krafttraining wohl so viel wusste wie von der Quantenmechanik, in der U-Bahn gefragt, was ich denn wohl so drücke. Bankdrücken ist nun einmal ein Klischee und wir messen uns oft auch daran.
(Bildquelle: Flickr / isafmedia ; CC Lizenz)
Und gerade hier, wenn wir zur Übertreibung neigen, winken Schulterprobleme und nicht gerade wenige sind hier auch schon an mangelnden Fortschritten verzweifelt. Insbesondere beim Drücken passiert es, dass wir uns in unseren Schienen festfahren. Wir wollen geradeaus, aber manchmal ist es kürzer, einen Umweg zu gehen.
Eine Variation der Griffweite wirkt hier oft wahre Wunder – und das unabhängig davon, ob man auf der Bank, über Kopf oder am Dipholmen drückt. Es gibt hier auch die Möglichkeit reverse (supiniert) zu greifen. Ich muss zu meiner Schande aber eingestehen, dass ich hiermit noch keine langfristigen Erfahrungen gemacht habe. (Evtl. kann ja jemand von meinen Lesern etwas dazu berichten?!) Anthony Clark auf jeden Fall ist dafür berühmt, dass er bei schweren Sätzen (für ihn ab 600 Pfund – ca. 272 kg) auf den ‘Reverse Grip’ umsteigt und damit sehr gut fährt.
Mir selbst jedoch hat eine regelmäßige Variation der Griffweite allein bereits über viele Plateaus geholfen und es hat auch endlich dazu geführt, dass mein Schultergelenk ausreichend robust für alle Drückbewegungen geworden ist und nicht nur für die auf Schienen. Schienen, die nur in der künstlichen Atmosphäre üblichen Krafttrainings gewährleistet sind und auch da nur, solange wir eine saubere Technik sowie Körperbeherrschung haben und es nicht übertreiben – also eigentlich so gut wie nie, wenn wir mal ehrlich sind.
Das sind alles nur Beispiele
Darüber hinaus gibt es unzählige weitere Variationsmöglichkeiten. Man muss nur kreativ sein, wissen, was von der Technik und Anatomie her möglich ist und bereit sein, die einprogrammierten Schienen zu verlassen. Jede vernünftige Variation ist ein weiterer bedeutender Schritt in Richtung Gesundheit, Stärke und Masse.
In der Praxis…
…gehe ich dann oft so vor, dass ich sehr regelmäßig die Variationen durchwechsele. Manchmal mache ich dann z.B. in den Auf- oder Abwärmsätzen verschiedene Variationen und beim Arbeitssatz die klassische Bewegungsausführung. Wenn diese jedoch momentan Probleme macht, Beschwerden auftreten oder ein Plateau besteht, lohnt es sich, auch gezielt Arbeitssätze mit einer der Variationen zu machen. Selbst mit Schulter- oder Kniebeschwerden habe ich meistens immer auch Variationen beim Heben, Beugen, Ziehen oder Drücken gefunden, mit denen ich nicht nur beschwerdefrei trainieren konnte, sondern sogar die Beschwerden beheben konnte, ohne dabei mit dem Training pausieren zu müssen – um hier jedoch keine falschen Entscheidungen zu treffen, bedarf es auch eines ausreichend geschulten Körpergefühls sowie entsprechender Bewegungskontrolle.
“Brumm, brumm, motherfucker!” Keine Straße? Kein Problem. Anders als der Zug entscheidet der Jeep wohin er möchte – komme was da wolle. (Bildquelle: Flickr / rvcroffi ; CC Lizenz)
Alle Variationen müssen erst korrekt mit leichtem Gewicht erlernt werden, bevor man sie mit schwerem Gewicht trainiert.
Manchmal gehe ich im Training auch von der Variation, bei der ich am schwächsten bin, schrittweise zu der über, bei der ich am stärksten bin. Quasi ein reduzieren der subjektiven Last, ohne dabei die objektive Last der Hantel zu verändern. Beim Bankdrücken beginne ich so z.B. mit ganz engem Bankdrücken und mache dann so oft Sätze mit immer weiterem Handabstand, bis ich mit den Händen ganz außen bin. Auf diese Weise kann ich die Drückbewegung in der Waagerechten absolut umfassend trainieren, stabilisieren und somit auch schützen. Bei den anderen Übungen geht dies ebenfalls. Natürlich muss man nicht mit weitem Handabstand am stärksten sein, das ist von Mensch zu Mensch und von Übung zu Übung verschieden. Beim Ziehen/Rudern ist man z.B. mit engem Handabstand am stärksten, da hier der Lat und der Bizeps am besten miteinander arbeiten können.
Kritik am differenzierten Training
Ja ich kenne die Texte, die vermitteln wollen, dass man mit unterschiedlichen Variationen keine differenzierten Wachstumsreize setzen kann. Diese sind aber – gelinde gesagt – Blödsinn. Der Körper passt sich überaus differenziert an die an ihn gestellten Anforderungen an. Ansonsten wäre er auch nicht zu dem gewaltigen Muskelkosmos (mit über 600 Muskeln) gewachsen. Ich habe es auch persönlich überprüft und im Training extra so überschwellige Reize gesetzt, dass ich einen deutlichen Muskelkater verspüren konnte. Dabei zeigte sich, dass verschiedene Variationen gleicher Übungen auch zu lokal deutlich verschiedenem Muskelkater geführt haben in den gleichen Muskelgruppen geführt haben – die Empirie siegt. Ganz einfach.
Was für Vorteile bringt das nun eigentlich?
Hier nun ein paar Fakten im Schnelldurchlauf, so wie sie u.a. in Axel Gottlobs Buch ‘Differenziertes Krafttraining’ angesprochen werden:
- Durch jede Variation wird das Nervensystem gefordert, sich weiterzuentwickeln und neue Bewegungsabläufe zu erlernen. Sprich, es wird besser und sicherer in all seinen Bewegungsmöglichkeiten und nicht nur in den Schienenbewegungen, die wir klassisch trainieren. (Vgl. dazu auch die Erkenntnisse von Enoka ‘Neuromechanical basis of kinesiology‘ 1994 & Bloomer ‘Varying neural and hypertrophic influences in a strength program’ 2000)
- Jede Variation führt zu einer veränderten Beanspruchung der Agonisten, Antagonisten und Synergisten. Genau so werden Schwachstellen in der Bewegungskette überwunden. (Vgl. Latham et. al. ‘Will muscle compartmentalization affect our practice?’ 1996 in Physiother Can.)
- Außerdem werden so die weiteren stabilisierenden Muskeln ebenfalls verschieden trainiert und gestärkt, was insgesamt zu mehr Stärke bei den klassischen Bewegungsformen verhilft. (Vgl. Scoville et.al. ‘End range eccentric antagonist/concentric agonist strength ratios: A new perspective in shoulder strength assessment’ 1997 & Rutherford ‘The role of learning and coordinating in strength training’ 1986)
- Die Neuorganisation der intra- und intermuskulären Koordination sowie die Aktivierung zusätzlicher motorischer Einheiten führen zu weiteren bisher unausgeschöpften Kraft- und Massesteigerungen. (Vgl. Poliquin ‘Theory and methodology of strength training’ 1996)
- Die Variationen bedingen eine verstärkte und umfassendere Ausbildung der Bindegewebsstrukturen. (Vgl. Brenke et.al. ‘Trainingsmethodische Hinweise zur Vermeidung von Schäden am Stütz- und Bewegungsapparat.’ 1985)
- Die Gelenk- und Knochenstrukturen bilden sich multidirektional aus und schützt uns so vor Schäden des passiven Bewegungsapparat im Alltag und bei schwerem Training. (Vgl. dazu meinen Artikel über die Auswirkungen schweren Krafttrainings auf die Knochen und Gelenke.) All diese Vorteile wirken sich durch variationsreiches Training schwerer Mehrgelenksübungen noch bedeutend intensiver und vorteilhafter für uns aus. Wenn der Druck/Zug auf einen Knochen z.B. nur senkrecht verläuft und von oben/unten kommt, dann wird er auch nur in der senkrechten Achse gestärkt. Für seitliche Einflüsse bleibt er ebenso anfällig wie auch zu Anfang. Wenn die Belastungen nun jedoch aus allen nur erdenklichen Richtungen kommen, dann wächst das innere Knochengewebe auch entsprechend vielseitig und wird dadurch überaus stabil.
- Die Variation bietet eine weitere Möglichkeit, die Gewöhnung des Körpers nicht nur durch die Veränderung von Systemen und Satz- sowie Wiederholungsschemata – sprich quantitativ –, sondern auch qualitativ in Form anderer Bewegungen zu umgehen und so neue, effektivere Wachstumsreiz zu setzen.
- Durch variationsreiches Training bereiten wir unseren Körper auf die Belastungen des Alltages, unsauberer Technik (z.B. aufgrund von Erschöpfung) und sonstiger Gefährdungen vor. Sie bilden ein überaus stabiles Fundament für schweres Training und ein vielseitiges Leben.
- Außerdem bietet solch ein Training mehr Abwechslung und variatio delectat – die Abwechslung erfreut. Der Spaß am Training ist eine Komponente, die nicht vernachlässigt werden darf.
Also sprengt die Schienen eures Trainings
Denn diese Schienen sind eure Ketten. Sie gaukeln euch Sicherheit vor, in Wirklichkeit jedoch machen sie euch zu Fachidioten der Hantelwelt, deren Stärke und Gesundheit auf tönernen Füßen steht. Wir müssen aber umfassend stark und widerstandsfähig sein, wollen wir langfristig erfolgreich und gesund trainieren.
An den Variationen der Mehrgelenksübungen geht somit kein Weg vorbei; auch nicht für Dich!
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Bildquelle Titelbild: depositphotos / ibrak
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